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des Antipsychiatrieverlags
in: Brückenschlag (Neumünster), Band 14 ("Fremde Welten"),
1998, S. 40-45; in verkürzter Form abgedruckt in: Pro mente sana
aktuell (Zürich), 1995, Nr. 2, S. 8-9
Kerstin
Kempker
Fremd sein Fremd bleiben
Weltfremde sind wir alle. Wir laben uns an Sicherheiten, die erfunden
wurden, um nicht ins Fragen zu geraten. Taucht das Fremde auf und
will nicht weichen, machen wir es kenntlich und übergeben es
den Leuten vom Fach. So gefährlich das ist, so einfach.
Das Fremde braucht einen Namen
Wir befinden uns in der Postmoderne, mit virtuellen Realitäten
konfrontiert, globaler Kommunikation wie Zerstörung ausgesetzt,
wo "das Eigene nicht weniger konstruiert wird als das Fremde" (Neckel,
S. 47). Beide sind nicht mehr dingfest zu machen. Zugehörigkeiten
wechseln wie Moden. Das Andere, Fremde wird um so bedrohlicher,
je weniger Eigenes bleibt. Wo "Fremdheit kein besonderer sozialer
Status mehr ist, sondern allgemeines Los" (zit.n. Neckel, S. 48),
sind wir uns selbst Fremde (Kristeva). Peter Sloterdijk spricht
von Weltfremdheit, Weltflucht und Weltlosigkeit in seinen "Mutmassungen
über das Tier, das auf sich selbst stösst, das sich Grosses
vornimmt, das oft nicht von der Stelle kommt und das manchmal von
allem genug hat" (S. 14):
"Zur Phänomenologie des Wegseins im Sinne der vulgären
Weltlosigkeit gehören alle Stadien der Entlastung, der Zerstreuung
und des gesuchten Vergessens. Schlaf und Ohnmacht, Tagtraum und
Nachttraum, Rausch und Droguierung, Unaufmerksamkeit und Geistesabwesenheit,
Selbstverhärtung und Spezialisierung" (S. 265).
Dem Wegsein steht das "Dasein" gegenüber, permanentes Dasein
wäre "für jeden Menschen die permanente Folter". Wir müssen,
um selber zu überstehen, wegsein, wegdenken, wegsehen und wegreden.
Sobald aber etwas ins Auge, ins Ohr, ins Denken sticht, sich wie
ein Stachel gegen alles, was sich von selbst versteht, stellt und
unser eigenes Fremdsein spiegelt, lauert Gefahr.
Was tun? Wir benennen es. Es ist Nicht-Ich. Lieber es sezieren,
zuordnen, klassifizieren als nach innen schauen, wo möglicherweise
nichts ist, ein Nichts. Eine Diagnose stellen heisst nach Bourguignon
"eine Entität schaffen die Krankheit ,
indem man sie benennt und klassifiziert. Es heisst, die zwei Quellen
seiner Beklemmung auf einen Schlag trockenlegen, das Unbekannte
des Wahnsinns und das Verhältnis zum Wahnsinnigen." (zit.n.
Jaccard, S. 39)
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Gesund oder krank, das ist eine Unterscheidung, die nach Medizin,
Fachmann und Skalpell ruft, eine saubere Trennung, vor der auch
Feministinnen nicht halt machen. Die Psychotherapeutin Michaela
Huber, die hierzulande die neue "Frauenkrankheit" MPS (Multiple
Persönlichkeitsstörung "Ich bin viele") publik
gemacht hat, dringt darauf, die Multiplen diagnostisch sauber von
den "Schizophrenen" zu unterscheiden. Denn während die "Schizophrenen"
als irgendwie Geisteskranke "Tiger auf dem Balkon sehen" und "Unverständliches
vor sich hin brabbeln", kann man und speziell frau sich mit Multiplen
ganz normal unterhalten (S. 155). Die Guten ins Töpfchen, die
Schlechten ins Kröpfchen. Die Diagnose ist Voraussetzung und
Rechtfertigung von allem, was folgt. Sie ist das Vergehen und das
Urteil, die Prophezeiung, die sich selbst erfüllt (vgl. Kempker
S. 28ff).
Sind nicht andere Disziplinen für die eigentliche Auseinandersetzung
viel besser gerüstet, z.B. die Philosophie? Nein, denn sie
legen die Quelle der Beklemmung nicht trocken, sie machen sie zum
reissenden Bach. Es ist, wie Sigrid Weigel sagt, "die Verbindung
von zugrunde gehen und von Grund auf wissen". Es ist im Grunde unerträglich,
die Welt bis ins Atom zu verstehen, die Sprünge und Löcher
in Zeit und Raum, das biologische Erbgut nicht nur bis zum letzten
Baustein zu kennen, sondern auch manipulieren zu können, auch
künstliche Herzen wird's bald geben. Aber das nichtstoffliche
menschliche Erbe, die Überlieferungen und Qualitäten von
Sein und Wünschen, sind uns fremd und darin bedrohlich. Es
ist der eigene Magen, der mich anknurrt wie ein wildes, fremdes
Tier. Es sind riesige Sinnkrater, Zukunfts- und Herkunftslöcher,
Katastrophenminen, über die wir bockig und unbeirrbar stapfen,
um nicht ins Denken zu geraten. Schauen wir hinunter, erklärt
uns die Pharmaindustrie zu Realitätsflüchtlingen (vgl.
Abb. 1). Die grösste Gefahr scheint das Zuendedenken. Grosse
Gefahren erfordern drastische Massnahmen. Und damit sind wir bei
der
Psychiatrie
Der Elektroschock ist wieder en vogue. In Deutschland wie auch
in der Schweiz noch zögerlich, z. Zt. kommen in der BRD nur
ca. 600 Menschen pro Jahr in den Genuss der "Rettung aus der Steckdose",
wie Die Zeit tituliert. In der Schweiz ist die Schockrate
schon dreimal höher. Doch die biologistische Psychiaterzunft
und die Medien werden wohl auch hier bald ähnliche Grössenordnungen
wie die 20.000 in Grossbritannien oder die 100.000 in den USA vermelden
können. Die Scheu vor dieser im Schlachthof entdeckten und
im Faschismus entwickelten Methode wird schwinden. Sie heisst auch
schon anders, Heildurchflutung. Für die rosenrote Brille, die
inmitten der realen Verwüstungen "neu motiviert", sorgen Tranquilizer
und Neuroleptika wie Dogmatil (vgl. Abb. 2). Die Dosierungen der
Neuroleptika haben sich nach Asmus Finzen (1990) in den letzten
20 Jahren verzehnfacht. Fieberhaft wird nach dem schizophrenogenen
Gen gefahndet. Was nicht passiert, ist das Nächstliegende:
zu fragen.
"Was die Schizophrenen betrifft, da mache ich mir nicht
die Mühe, noch viele Fragen zu stellen, wenn ich merke, dass
sie schizophren sind; denn ich weiss vorher schon, was sie sagen
werden" (zit.n. Scheff, S. 89f).
"Nie fragten sie mich: 'Was wird dir helfen, damit zurechtzukommen?'"
(Smith, S. 54)
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"Nie hat mich jemand gefragt", diesen Satz habe ich oft gehört,
wenn von der Psychiatrie, aber auch wenn von alternativen therapeutischen
Einrichtungen die Rede war. Geredet wird dort viel, meist aber mehr
über die Betroffenen als mit ihnen. Ruth Klüger schreibt
am Ende ihrer faszinierenden Autobiographie "weiter leben", deren
Orte die KZs sind, von einem Unfall, den sie kürzlich erlitt.
Sie liegt schwer lädiert im Krankenhaus:
"Ich bin froh, wenn man mir Fragen stellt, denn Fragen
stellt man nur an Menschen, die etwas zu sagen haben. Wer eine Antwort
von mir will, hält mich für zurechnungsfähig." (S.
275)
Fragen, gemeinsam nach Antworten suchen, und wo es keine geben
kann, die Fragen ertragen. Es wäre so einfach, wenn da nicht
diese Allmachtsphantasie wäre, immer etwas tun zu können
und zu müssen. Vielleicht wäre es auch gar nicht einfach.
Thomas Szasz meinte:
"So schwierig es auch sein mag, Dinge zu klassifizieren
und besonders, sie richtig zu klassifizieren, noch schwieriger ist
es, Dinge nicht zu klassifizieren." ( S. 371)
Es könnte ängstigen. Statt dessen Diagnosen, Chemie,
Strom, Fesseln und Einsperren, vorzeitige Berentung. Es sind nicht
nur Sadisten, die das tun. Viel gefährlicher und häufiger
sind die Wohlmeinenden, Verständnisübervollen, die ihre
Hände in psychiatrischer Lehrmeinung waschen, dass kleine Probleme
Neurosen heissen und auch von Psychologen zu meistern sind, grosse
Probleme aber Psychosen sind, wo Worte nicht ankommen, nur Eingriffe.
Warum lassen Menschen das mit sich machen? Warum begeben sich viele
sogar freiwillig in psychiatrische "Obhut"? Verzweifelte oder Verrückte
sind nicht die besseren Menschen, auch nicht die grossen Revolutionäre,
die auf ihre Freiheit pochen. Wer sich an der Pforte der Psychiatrie
zur Heilung abgibt wie andere ihren Mantel in der Reinigung, wer
sich neu "einstellen" lässt auf Imap oder Haldol-Depot, ist
dem Krater schon zu nahe gekommen. Nichts ist verständlicher
als die Selbstaufgabe und -abgabe angesichts des Unerträglichen.
Nichts ist gefährlicher. Viele, speziell Frauen, schaffen es,
vor dieser Selbstübergabe sich der Psychotherapie anzuvertrauen.
Sie "machen" Therapie, sie sind bei jemandem in Analyse.
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Warum?
Es gibt sicher viele Gründe. Mich interessiert hier
nur der eine, die Suche nach Verständnis. "Und du willst
für dein Leben gern etwas Unbeantwortbares sagen", lautet
das andere Angebot von Sylvia Plath. Warum und um welchen
Preis wollen wir verstanden werden? Woher kommt das
beruhigende Potential der Diagnose? Ich bin Borderline, schlimm
genug, aber jetzt weiss ich's endlich. Ich habe ein Wort dafür,
hab's schwarz auf weiss. Ich bin multipel, immerhin nicht
schizophren, ich darf "wir" sagen. Warum schlucken wir nicht
nur Pillen, auch Diagnosen ("das muss ich so schreiben, ist
nur für die Kasse", windet sich die Therapeutin)? "Jeder
fünfte ist psychisch krank", schreibt die Frankfurter
Allgemeine Zeitung (31.5.91). Warum verfallen Millionen
der Angst, der Schwermut und dem Alkohol (Phobie, Depression
und Sucht sind die häufigsten Diagnosen)? "Die Angst",
sagt Ingeborg Bachmann in "Der Fall Franza",
"ist kein Geheimnis, kein Terminus, kein Existential,
nichts Höheres, kein Begriff, Gott bewahre, nicht systematisierbar.
Die Angst ist nicht disputierbar; sie ist der Überfall,
sie ist Terror, der massive Angriff auf das Leben" (S. 74).
Wie wollen Psychologie und Medizin da Antwort geben? "An
die Stelle der Philosophen sind die Psychoanalytiker getreten,"
so Peter Sloterdijk, "die die Welt als Klinik und den Menschen
als providentiellen (von der Vorsehung bestimmten, K.K.) Patienten
deuten" (S. 12).
Nicht von ungefähr gibt es in unserem Verein zum Schutz
vor psychiatrischer Gewalt, der ein Weglaufhaus plant, mehr
PhilosophInnen als PsychologInnen.
Wieviel Unverständlichkeit darf ich mir leisten, ohne
von aussen oder von innen zu Massnahmen gezwungen zu sein?
Wie fragwürdig darf das Leben sein? Und was ist da, "wo
Hilfe nicht mehr helfen kann"? Ist es die Kunst, wie Adolf
Muschg schreibt? Samuel Beckett verlieh der Wortlosigkeit
Worte. "Über mich muss ich jetzt sprechen", sagt "der
Namenlose",
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"selbst wenn ich es mit ihrer Sprache tun muss, es wird
ein Anfang sein, ein Schritt zum Schweigen, zum Ende des Wahns,
sprechen zu müssen und es nicht zu können, ausser von
Dingen, die mich nichts angehen, die nicht zählen, an die ich
nicht glaube, mit denen sie mich überfüttert haben, um
mich zu hindern, dass ich sage, wer ich bin, wo ich bin und dass
ich tue, was ich tun muss ... Den Mund nicht auftun zu können,
ohne sie zu proklamieren, als ihr Artgenosse, das ist es, wozu sie
mich erniedrigt zu haben glauben. Mir eine Sprache eingetrichtert
zu haben, von der sie sich einbilden, dass ich mich ihrer nie bedienen
könnte, ohne mich zu ihrer Sippschaft zu bekennen, ein feiner
Trick ... Teure Verständnislosigkeit, dir werde ich letzten
Endes verdanken, ich zu sein" (Werke 8, S. 442f).
"Schön sein schön bleiben" hiess das Buch, dem
meine Mutter entnahm, was zu tun sei, um das zu bleiben, was sie
so gerne wäre. Es war mein erster Kontakt zu einem Buch (s.
Abb. 3), das Folgen hatte: Quarkwickel, Gurkenmasken, Frühgymnastik
am offenen Fenster, Augenrollen, Halsmassage. Möglicherweise
spielt mir mein "locker assoziierendes" (DSM-III-R) Denken hier
einen Streich. Aber ist das Fremdeste, wenn es diese Steigerung
denn gibt, nicht diese fremde Schöne, unentdeckt noch, aber
permanent erarbeitet an jedem Muskel, jedem Haar und in jeder gelungenen
Bewegung? Wenn frühkindlich Bedeutsames prägt, dann haben
mich die mütterlichen Masken und Verrenkungen, die immer wieder
von den in "Schön sein schön bleiben" abgebildeten
Grazien ausgingen und diesen doch nie ähnlich wurden, geprägt.
Schön ist die Fremde.
Quellen
- Bachmann, Ingeborg: Der Fall Franza. München 1981
- Beckett, Samuel: Werkausgabe. Frankfurt a.M. 1976
- Huber, Michaela: Multiple Persönlichkeiten. Frankfurt a.M.
1995
- Jaccard, Roland: Der Wahnsinn. Frankfurt a.M. 1983
- Kempker,
Kerstin: Teure Verständnislosigkeit Die Sprache der
Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie. Berlin
1991
- Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. München 1994
- Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M.
1990
- Neckel, Sighard: Gefährliche Fremdheit. In: Ästhetik
& Kommunikation, 23. Jg. (1994), Nr. 85/86
- Scheff, Thomas J.: Das Etikett 'Geisteskrankheit'. Frankfurt
a.M. 1973
- Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit. Frankfurt a.M. 1993
- Smith, Andy. In: Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie. Berlin
1993
- Szasz, Thomas S.: Schizophrenie. Frankfurt a.M. 1982
Abbildungsnachweis
-
Abb. 1: Smith, Kline & French Laboratories: Werbeanzeige. In:
American Journal of Psychiatry, Vol. 113 (1956), Nr. 6, S. XVI
-
Abb. 2: Schürholz-Arzneimittel GmbH: Werbeanzeige (Ausschnitt),
in: Nervenarzt, 52. Jg. (1981), Nr. 4, S. A21
-
Abb. 3: Privat
© 1995 by Kerstin Kempker. Alle Rechte vorbehalten
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