Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 60-67
Seth
Farber
Wenn der Kinderpsychiater kommt ...
Verriegeln Sie die Tür! Verstecken Sie sich! Flüchten
Sie! Leisten Sie Widerstand! Tun Sie es Ihren Kindern zuliebe.
Ihr Kind ist in Gefahr, denn es besteht die Möglichkeit,
dass seine körperliche Gesundheit geschädigt und sein
Bewusstsein zerstört wird.
(Kinder-)Psychiater machen sich kaum die Mühe, mit Kindern
zu sprechen, zu spielen oder zu malen, um ihnen zu helfen, sich
von lästigen Verhaltensweisen und Gefühlen zu befreien.
Kinderpsychiater sind naturwissenschaftlich ausgebildete Mediziner,
die gelernt haben, psychologische Probleme vorrangig auf Stoffwechsel-
oder andere organische Störungen zurückzuführen
und entsprechend mit körperlichen Behandlungsformen, speziell
Psychopharmaka, zu bekämpfen. Dabei muss es nicht speziell
ein sogenannter 'Facharzt für Psychiatrie' sein, der Ihrem
Kind die primär körperlich wirkenden Psychopharmaka
verabreicht; in aller Regel ist es Ihr Haus- oder Kinderarzt,
der die 'kleine Psychiatrie' betreibt und Sie und Ihr Kind aus
seinem Behandlungszimmer entlässt: mit jovialem Lächeln
und einem »Dies geben Sie Ihrem Kind drei Mal täglich,
das wird seine Probleme beseitigen.«
BeraterInnen, die wirklich an der Überwindung von Schwierigkeiten
interessiert sind, unter denen Ihr Kind leidet, würde familientherapeutische
Methoden anwenden und das Kind im familiären Zusammenhang
betrachten, um die Dynamik der innerfamiliären Beziehungen
offenzulegen und gegebenenfalls zu verändern. Sie würden
aber alle gegen das Kind gerichteten Zwangsmaßnahmen ablehnen
und weder das Kind zum Sündenbock machen und stigmatisieren,
noch sein Verhalten mit angeblichen individuellen Defiziten begründen.
Ein Psychiater kann heutzutage kaum den Anspruch erheben, ein
Berater zu sein. Er hat keine Zeit für Therapie; er hat keine
Zeit, mit Ihrem Kind über dessen Probleme zu sprechen. Gleichzeitig
gibt er selbstverständlich vor, zum Wohle des Kindes zu handeln
und ihm zu helfen. Er wird Ihnen weismachen wollen, dass aufgrund
seines 'Fachwissens' einzig und alleine er qualifiziert sei, mit
modernsten 'wissenschaftlichen' Methoden zur Entwicklung Ihres
Kindes beizutragen. Das ist reine Propaganda.
Der typische Kinderpsychiater ist ein Agent sozialer Kontrolle
und ein staatlich lizenzierter Drogenhändler. Nach einem
Entscheid der American Psychiatric Association (Standesorganisation
der US-amerikanischen Psychiater), größere finanzielle
Zuwendungen von seiten der Pharmakonzerne anzunehmen, vermehrte
sich der Reichtum der amerikanischen Psychiatrie Ende der 70er
und Anfang der 80er Jahre auf wundersame Art und Weise. Wir haben
daher einen ganzen Industriekomplex, der ein nachvollziehbares
Interesse daran hat, soziale Probleme als medizinische 'Syndrome'
(Komplexe von 'Krankheitssymptomen') zu definieren, und
diese können dann mit 'angemessener Medikation behandelt'
werden.
Jay Haley, einer der Pioniere der Familientherapie, unterscheidet
in seinem Buch »Leaving Home« (1980; »Von zuhause
weglaufen«) einen Therapeuten von einem Sozialkontrolleur:
»Ziel eines Therapeuten ist es, Menschen die vielfältigen
Möglichkeiten des Lebens zu erschließen, indem er
ständig wiederkehrende Verhaltensmuster aufbricht und neue
Alternativen aufzeigt. Er will eine Problemperson nicht einfach
anpassen, sondern ihr Mittel geben, die sie zur Entwicklung
neuer Ideen und Handlungsweisen befähigen, auch solcher,
die der Therapeut selbst nicht in Betracht gezogen hat. So gesehen
unterstützt ein Therapeut Unberechenbarkeit. Seine Aufgabe
ist es, Veränderung herbeizuführen und somit auch
neues, oftmals nicht vorhersehbares Verhalten.
Der Agent sozialer Kontrolle hat ein genau entgegengesetztes
Ziel. Seine Aufgabe ist es, Menschen im Sinne der Gemeinschaft
zu stabilisieren; infolgedessen versucht er, Unberechenbarkeit
zu vermindern. Er möchte, dass sich Menschen mit Problemen
anständig benehmen, wie die anderen in der Gemeinschaft
auch, damit sich niemand über sie aufregen muss. Es sind
nicht Veränderung und neues Verhalten, was er anstrebt,
sondern vielmehr Beständigkeit und Vermeidung von Beanstandungen.«
(S. 54f.)
Auf ähnliche Art können wir einen Erzieher von einem
Agenten sozialer Kontrolle unterscheiden. In den US-amerikanischen
Schulen (und sicher nicht nur in diesen) wird den Kindern heutzutage
kaum beigebracht zu lernen. Man lehrt sie, Regeln zu befolgen
und zu gehorchen. Sie werden darauf abgerichtet, sich in unserer
Gesellschaft wie Roboter an einem Fließband zu verhalten.
Jeder kreative Gedanke, jede Eigeninitiative und Unangepasstheit
ist eine Bedrohung der Ordnung, die es mit allen denkbaren Mitteln
zu unterdrücken gilt.
Der Journalist Peter Schrag und seine Kollegin Diane Divoky schreiben
1975 in ihrem Buch »The Myth of the Hyperactive Child«
(»Der Mythos vom hyperaktiven Kind«), psychiatrisch
Tätige verkündeten
»... eine Ideologie der 'frühen Intervention'
und 'Behandlung', die sich immer mehr verbreitet und im wesentlichen
sozialer Kontrolle dient. Diese Ideologie (...) durchdringt alle
wichtigen Institutionen, die mit jungen Menschen zu tun haben:
Schulen, Einrichtungen der Bewährungshilfe, Kliniken, die
Bundesregierung sowie den wachsenden Wissenschafts- und Verwaltungskomplex,
der die Erforschung der wuchernden 'Störungen' und 'Syndrome'
der Unangepasstheit leitet.« (S. XIV)
Dies wurde vor über 15 Jahren verfasst; die Situtation ist
inzwischen nicht besser geworden, im Gegenteil.
Der typische Kinderpsychiater ist ein guter Agent sozialer Kontrolle.
Er oder sie wird bezahlt, um folgendes zu schaffen: soziale Stabilität
und unauffällige Bürger. Er dient nicht Ihrem Kind,
sondern dem Apparat, der Bürokratie, die ihn beschäftigt
und deren einziges wirkliches Ziel es ist, sich selbst zu erhalten
und zu vergrößern koste es, was es wolle. Und
wenn der Preis dafür die Gesundheit, die Sicherheit, die
Geborgenheit, die Selbstachtung, das Glück und die intellektuelle
Entwicklung Ihres Kindes ist, dann soll das eben so sein. Es lebe
der Apparat!
Nur etwas ist bedrohlich: dass jemand Argwohn entwickelt, wenn
die aktiven, intellektuell aufgeweckten ErstklässlerInnen,
die mit der Schule schlecht zurechtkommen, zu pseudowissenschaftlichen
psychologischen Tests herangezogen werden und bescheinigt bekommen,
dass sie an 'Aufmerksamkeitsstörungen',
'minimalen Hirnschäden' und ähnlichen Syndromen leiden
(1). Bedrohlich ist nur,
dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, dies alles diene
nicht dem Wohl der Kinder. Vielleicht entstünde aus diesem
Argwohn die Forderung nach strukturellen Reformen innerhalb des
Erziehungssystems, und Kinder würden dann nicht mehr für
das Versagen von Erwachsenen verantwortlich gemacht. Das könnte
dem Agenten sozialer Kontrolle ernsthafte Probleme bereiten. Natürlich
gibt es noch viele andere Bedingungen, die Ihr Kind an der freien
Entfaltung seiner Persönlichkeit hindern, seien es Armut,
Diskriminierung aufgrund irgendeiner Andersartigkeit, kinderfeindliche
Wohnsituation, innerfamiliäre Spannungen usw. usf. Im folgenden
konzentriere ich mich jedoch auf die Schule, da hier der wahrscheinlichste
Berührungspunkt mit der Kinderpsychiatrie auszumachen ist.
Einer der stärksten modernen Kritiker unseres Erziehungssystems,
der Lehrer John Gatto, arbeitete mehr als 26 Jahre an einer Schule.
In seinem Buch »Dumbing us Down« (1992; »Wie
man uns zum Schweigen bringt«) schreibt er:
»Das monopolisierte Schulwesen ist die wichtigste
Bildungseinrichtung unserer Massengesellschaft, die Experten mit
ihren Statusprivilegien permanent bestätigt, ohne dass dies
aufgrund der Ergebnisse, die sie erzielen, gerechtfertigt wäre.
Weil niemand, der diese Privilegien erst einmal erlangt hat, freiwillig
auf sie verzichten will, schuf man bombastische und unreformierbare
Systeme von Privilegien.« (S. 100)
Auf einer öffentlichen Rede äußerte John Gatto
kürzlich:
»Ich habe 26 Jahre an einer öffentlichen Schule unterrichtet,
aber ich kann das nicht mehr machen. Jahrelang bat ich die örtliche
Schulbehörde und den zuständigen Schulrat, einen Lehrplan
zu bewilligen, der die Kinder nicht verletzt, aber es gab Wichtigeres
zu tun. Also werde ich wohl den Dienst quittieren.
Mir ist langsam klar geworden, woraus mein Lehrplan tatsächlich
besteht: aus Durcheinanderbringen, Rangordnung, Willkür,
Geschmacklosigkeit, Grobheit, Missachtung der Privatsphäre,
völliger Abhängigkeit und Gleichgültigkeit. Ich
lehre, in einer Welt zurechtzukommen, in der ich selbst nicht
leben will.
Ich kann das einfach nicht mehr. Ich kann Kinder nicht
trimmen, darauf zu warten, dass sie gesagt bekommen, was sie tun
sollen; ich kann Menschen nicht abrichten, dass sie alles stehen
und liegen lassen sollen, wenn eine Klingel ertönt; ich kann
Kinder nicht davon überzeugen, die Rangordnung in der Klasse
habe etwas mit Gerechtigkeit zu tun, weil es einfach nicht stimmt;
und ich kann Kindern nicht weismachen, ein Lehrer besitze wertvolle
Geheimnisse, die sie dadurch erwerben können, dass sie folgsam
sind. Das ist nicht wahr.«
Hätten wir mehr ErzieherInnen wie John Gatto und mehr RatgeberInnen
wie Jay Haley, die ihren SchülerInnen und KlientInnen Initiative
lassen, statt demütige Unterwerfung unter standardisierte
Routine zu fordern, dann könnten wir die Kinder das Lernen
lehren. Wir könnten sie dazu bewegen, sich auf das Lernen
einzulassen. Sie würden vielleicht sogar still sitzen, ohne
durch Amphetamine (Aufputschmittel, die bei Kindern in der
Regel paradox, d.h. dämpfend wirken) ruhiggestellt zu
sein. Aber wenn wir das erreichen wollten, müssten wir das
Konzept des Einheitslehrplans vollständig verabschieden.
Wir müssten unsere Lehrmethoden auf die Bedürfnisse
des einzelnen Kindes zuschneiden. Wir müssten dafür
sorgen, dass man Abweichung nicht mehr als psychische Krankheit
definiert. Wir müssten aufhören, einem Kind, das nicht
in die Denkschublade des Experten passen will, einen genetischen
Defekt anzudichten.
John Gatto ist der Meinung, dass es lernbehinderte Kinder praktisch
nicht gibt:
»Lesen lernt David mit vier Jahren, Rachel mit
neun. Bei einer normalen Entwicklung können Sie, wenn beide
13 sind, nicht mehr feststellen, wer es zuerst gelernt hat
die Streuung von fünf Jahren ist ohne jede Bedeutung. In
der Schule werde ich jedoch Rachel als 'lernbehindert' einstufen
und David ein wenig bremsen... In den 26 Jahren meiner Lehrertätigkeit
hatte ich es mit Kindern armer und reicher Eltern zu tun; dabei
ist mir so gut wie nie ein 'lernbehindertes' Kind begegnet, ebensowenig
wie ein 'talentiertes' oder 'hochbegabtes'. Wie alle schulischen
Kategorien sind auch dies heilige Mythen, die allein der menschlichen
Einbildungskraft entspringen. Sie gehen auf fragwürdige Werte
zurück, deren Gültigkeit wir aber niemals prüfen,
weil sie den heiligen Tempel der Schulbildung bewahren.«
Das ist die wahre Bedeutung von Short-Answer-Tests (Tests
mit kurzen Antworten, ähnlich den Multiple-Choice-Tests),
Schulklingeln, einheitlichen Zeitblöcken, der Einstufung
nach dem Alter, der Standardisierung und all der anderen Dinge,
die zu den Glaubensinsignien des Schulwesens gehören...
Eine Durchsicht der Studien, die von VerfechterInnen des Konzepts
der 'Aufmerksamkeitsstörung' und des 'minimalen Hirnschadens'
durchgeführt wurden, führt ironischerweise zur selben
Schlussfolgerung. Laut diesen Untersuchungen leiden Kinder, von
denen man sagt, ihre Gehirne hätten Fehlfunktionen, tatsächlich
an keiner wie auch immer gearteten Störung! Den Leserinnen
und Lesern empfehle ich den exzellenten Artikel »Attention-Deficit
Disorder: The Emperor's Clothes« (»Aufmerksamkeitsstörung:
Des Kaisers Kleider«) von Diane McGuinness (1990). Eine
Untersuchung nach der anderen hat gezeigt, dass Kinder mit angeblichen
Aufmerksamkeitsstörungen ('ADD-Kinder') bei den verschiedenen
Testaufgaben Ergebnisse erzielten, die mit denen der Kontrollgruppen
'normaler' Kinder vergleichbar sind. Diane McGuinness verweist
insbesondere auf zahlreiche Studien, in denen eine bestimmte experimentelle
Variable gemessen wurde:
»Auch Untersuchungen, bei denen anhaltende Aufmerksamkeit
für eine Problemlösungsaufgabe gefordert war, ergaben
keinerlei Unterschiede zwischen ADD-Kindern und den Kontrollgruppen,
was nicht nur zeigt, dass es diesen Kindern nicht an der Fähigkeit
mangelt, ihre Aufmerksamkeit zu steuern; es beweist auch, dass
sie ebenso wie andere Kinder komplexe kognitive (die Erkenntnisfähigkeit
betreffende) Problemstellungen bewältigen können.«
(S. 169)
In einem Bereich unterschieden sich 'ADD-Kinder' tatsächlich
von 'normalen', und zwar in ihrer Bereitschaft, sich mit langweiligen,
eintönigen Aufgaben zu befassen. Diese Verweigerung beruht
jedoch nicht auf einer Behinderung; dies wurde dadurch belegt,
dass die 'ADD-Kinder' genauso erfolgreich waren wie die Kontrollgruppe,
wenn sie für korrekte Antworten eine finanzielle Belohnung
erhielten.
Die Untersuchungen erbrachten auch keinerlei Anhaltspunkte dafür,
dass die Verabreichung von Amphetaminen (wie z.B. Metylphenidat
[Ritalin]) in irgendeiner Weise zur Steigerung der Motivation
führt, dem Unterricht zu folgen oder die schulischen Leistungen
zu steigern. Die Sache ist die, dass viele Kinder trotz ihrer
Lernfähigkeit in diesem Erziehungssystem nichts lernen, und
wenn man sie zwingt, gefährliche toxische (giftige)
Drogen zu schlucken, dann ist das kein Ausweg aus dieser unglücklichen
Situation. Kinder wollen die Medikamente nicht; und die meisten
bitten vor Ablauf des ersten Jahres inständig, sie abzusetzen.
Normalerweise müssen die Kinder diese Psychopharmaka mindestens
fünf Jahre lang einnehmen. Diane McGuinness schreibt dazu:
»Im allgemeinen zeigen Untersuchungen, dass Kinder
unter medikamentöser Langzeitbehandlung Minderwertigkeitsgefühle
und einen extremen Mangel an Selbstachtung aufweisen, was auch
durch Folgestudien belegt ist.« (S. 179f.)
Außerdem können diese Psychopharmaka eine psychische
Abhängigkeit bewirken, psychische Auffälligkeit verstärken,
das Wachstum hemmen und Körpergewichtsstörungen verursachen.
Zusammenfassend lässt sich über die Situation in den
USA folgendes sagen: Millionen von Kindern, die in der Schule
nicht zurechtkommen, werden zu Sündenböcken erklärt
und unter dem Vorwand, sie zu 'behandeln', psychologisch und pharmakologisch
missbraucht. Man tut dies trotz der vorhandenen umfassenden Nachweise,
dass die Gruppe der 'lerngestörten' Kinder über dieselben
intellektuellen Fähigkeiten verfügt wie die Normalbevölkerung.
Darüber hinaus geschieht nichts, um die Bedingungen zu ändern,
die dazu führen, dass diese Kinder in der Schule nicht zurechtkommen.
In Staaten mit gleichen oder ähnlichen Ausgangsbedingungen
dürfte die Situation nicht viel anders sein. Natürlich
stellen sich die Probleme von Kindern in den USA in spezifischer
Weise dar, speziell in den Ghettos der sozial Schwächsten.
Im Prinzip unterscheiden sie sich jedoch nicht von denen in anderen
Staaten, wo ebenfalls Kinder psychiatrischer 'Therapie' zugeführt
werden: evtl. Unterbringung in kinder- und jugendpsychiatrischen
Stationen oder Anstalten, Fixierung, Behandlung mit Psychopharmaka
oder, wie z.B. in Deutschland, gar mit Elektroschocks.
Ein System, das wie eine Maschine organisiert ist und versucht,
alle Individuen zu klassifizieren, zu kontrollieren und jedem
Spleen von 'Experten' anzupassen, wird schwerlich zur Beseitigung
der sozialen Probleme in der Lage sein, die seine eigene erstarrte,
seelenlose Organisationsform mit sich bringt. Es kann jedoch
und das tut es auch die Aufmerksamkeit der Menschen von
den wahren Problemen ablenken und jede wirkliche Problemlösung
verhindern.
Der Trend, Abweichung als Krankheit zu definieren, ist stärker
geworden. Immer mehr leicht angreifbare Einzelpersonen macht man
für das Versagen des Systems verantwortlich, bescheinigt
ihnen eine Funktionsstörung und unterzieht sie allen möglichen
angeblichen Behandlungen; und das alles, weil korrupte Organisationen
und Institutionen wie beispielsweise das Erziehungswesen bei der
Erfüllung der Aufgaben, zu deren Zweck sie angeblich gebildet
wurden, versagen. Von 1985 bis 1992 hat sich im Bundesstaat New
York die Zahl der Kinder unter dreizehn Jahren, die man in staatliche
Psychiatrische Anstalten untergebracht hat, mehr als verdoppelt.
Im Bundesstaat Michigan, für den Daten vorliegen, war »Störung
mit Oppositionellem Trotzverhalten« (Kodierungsnummer 313.81)
die häufigste 'Diagnose', mit der das Einsperren der Kinder
in Psychiatrische Anstalten gerechtfertigt wurde. Diese 'Störung'
definierte man in der Bibel (nicht nur) der amerikanischen Psychiater,
dem »Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer
Störungen DSM-III-R«: Das betroffene Kind
»(1) verliert oft die Nerven, (2) streitet sich
oft mit Erwachsenen, (3) widersetzt sich häufig aktiv den
Anweisungen oder Regeln der Erwachsenen, weigert sich beispielsweise,
Hausarbeiten zu machen, (4) tut vorsätzlich etwas, was andere
verärgert, greift z.B. nach den Mützen anderer Kinder,
(5) schiebt oft anderen die Schuld für eigene Fehler zu,
(6) ist oft reizbar und durch andere verärgert, (7) ist oft
wütend und beleidigt, (8) ist oft boshaft und nachtragend,
(9) flucht oft oder benutzt obszöne Wörter.« (»Manual«
1989, S. 88)
Alle, die selbst Kinder haben oder zumindest gut kennen, werden
festgestellt haben, dass mit diesen Worten vor einigen Jahren
noch normale Kinder bei der Entdeckung ihrer Persönlichkeit
und der Erprobung ihres Willens beschrieben worden wären.
Jetzt definieren die Agenten sozialer Kontrolle die Kindheit
selber als pathologisch (krankhaft), als psychische Krankheit.
Offensichtlich ist Kindheit subversiv; sie macht den Agenten sozialer
Kontrolle Angst, weil sie das Schreckgespenst des Kontrollverlusts,
der Verrücktheit, der Rebellion und Revolution heraufbeschwört.
Es ist nun einmal so, dass Kinder Anweisungen nicht immer Folge
leisten. Sie verhalten sich nicht wie funktionierende Maschinen.
Sie neigen nicht dazu, sich von sich aus den Erwartungen irgendwelcher
Autoritäten anzupassen.
Lassen Sie sich nicht kirre machen, wenn von irgendeiner Seite,
sei es Lehrer, Hausarzt oder Schulpsychologin, der Vorschlag kommt,
Ihr Kind psychiatrisch untersuchen zu lassen. Sprechen Sie mit
Ihrem Kind über seine Probleme, Ängste und Wünsche.
Sprechen Sie auch mit den anderen Vertrauenspersonen Ihres Kindes,
wenn Ihr Kind dies will. Glauben Sie Ihren eigenen Wahrnehmungen,
in aller Regel kennt niemand Ihr Kind besser als Sie selbst. Lassen
Sie sich nicht von Diplomen, Titeln und weißen Kitteln beeindrucken.
Sollte doch einmal an Sie das Ansinnen gestellt werden, aufgrund
von nichtmedizinischen Problemen Ihr Kind dem Arzt oder gar speziell
dem Kinderpsychiater vorzustellen, dann rate ich Ihnen u.a., das
Ansinnen schlichtweg zurückzuweisen, aus Ihrer möglichen
Isolation herauszugehen und sich mit anderen betroffenen Eltern
zusammenzutun, sich an geeigneter Stelle Rat zu holen, Ihr Kind
möglichst nicht alleine zum Arzt oder gar Psychiater gehen
zu lassen, Gespräche und Auskünfte zu verweigern, wenn
diese aktenmäßig erfasst werden, Rechtsauskunft einzuholen
über die Notwendigkeit, Therapie- und Behandlungsauflagen
Folge leisten zu müssen, und im Falle der Verschreibung von
Psychopharmaka auf einer umfassenden Aufklärung über
alle nicht auszuschließenden Behandlungsrisiken und -schäden
zu bestehen und das eigene Recht auf Ablehnung der vorgeschlagenen
Behandlung nicht zu vergessen.
Die Situation ist tragisch. Man erklärt Kinder zu Staatsfeinden,
weil sie Kinder sind. Lassen Sie uns nicht tatenlos zusehen, wie
Agenten sozialer Kontrolle und staatlich lizenzierte Drogenhändler,
die vorgeben, im Interesse der Kinder zu handeln, sich an unseren
Kindern vergreifen, um sie fertigzumachen. Lassen Sie uns alles
Menschenmögliche tun, um denen Widerstand entgegenzusetzen,
die unseren Kindern das Recht auf ein eigenes Leben, auf Freiheit
und das Streben nach Glück vorenthalten wollen.
Aus dem Amerikanischen von Rainer Kolenda
Anmerkung der Herausgeber
(1) Andere von Psychiatern benutzte Begriffe sind: hyperkinetische
(d.h. durch eine übermäßige Bewegungsaktivität
charakterisierte) Reaktion im Kindesalter, hyperkinetisches Syndrom,
kindliches Hyperkinesesyndrom, minimale Hirndysfunktion, minimale
cerebrale Dysfunktion (das Gehirn betreffende Fehlfunktion), leichte
cerebrale Dysfunktion, Zappelphillip-Syndrom, Kodierungsnummer
314.00 bzw. 314.01.
Quellen
Seth Farber, Dr. phil., ist Autor, Psychologe und Sozialkritiker.
Er gründete das Network Against Coercive Psychiatry (Netzwerk
gegen Zwangspsychiatrie), um damit zur Bildung einer sozialen
Massenbewegung gegen das psychiatrische System beizutragen. Im
Netzwerk arbeiten abtr¨nnige Professionelle ebenso wie Psychiatriebetroffene.
Veröffentlichungen: »Institutional Mental Health and Social
Control: The Ravages of Epistemological Hubris«, in: Journal
of Mind and Behavior, Vol. 11 (1990), Nr. 3/4; »Madness,
Heresy, and the Rumor of Angels: The Revolt Against the Mental
Health System«, Chicago: Open Court Press 1993. (Stand: 1993)
© 1993 by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag