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in: Widerspruch – Beiträge zur sozialistischen Politik (Zürich), 12. Jg. (1992), Heft 23, S. 113-124

"Die Elektroschock-'Therapie' ist die Bankrotterklärung der Psychiatrie."
Mariella Mehr

Marc Rufer

Biologische Psychiatrie und Elektroschock

Für ein Verbot des Elektroschocks

Im September 1984 fand das erste Dreiländer-Symposium für Biologische Psychiatrie statt. In Lindau wurden damals auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie die Kontakte mit der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologischen Psychiatrie und der Schweizerischen Vereinigung für Biologische Psychiatrie enger geknüpft.

Im Geleitwort zum Sammelband, in dem die Referate dieses Symposiums publiziert wurden, führte Prof. Wolfram Keup, München aus: "Die Psychiatrie ihrerseits findet sich heute, wenn auch schon abnehmend, im Feuer emotional geführter Angriffe einer wohl existentiell begründeten Ablehnung, gipfelnd in der Antipsychiatrie, der sich leider die Medien zu gern geöffnet haben, so dass ein vorübergehendes Einverständnis der Bevölkerung daraus resultiert – einer Bevölkerung, die zunehmend an der Unsicherheit des Urteils leidet.

Es wäre kein Wunder, wenn sich die Wissenschaftler der biologisch-psychiatrischen Arbeitsrichtung zurückzögen an ihren Arbeitstisch, in ihr Labor, zu ihren Patienten. Aber das könnte der Sache nicht dienen! Wir werden vielmehr vermehrt nach aussen gehen müssen, werden zu Laien, in Schulen, in Bürgerversammlungen und zu Politikern sprechen müssen und dürfen uns nicht in einem elfenbeinernen Turm einschliessen.

Deswegen erlauben Sie mir bitte, dass ich Sie zu Beginn dieses Kongresses herzlich bitte, ja auffordere: Tragen Sie dieses Wissen, das aus Ihrer Arbeit kommt, und das wir in diesem Kongress vertreten, hinaus. Werben Sie um Verständnis. Zeigen Sie die menschliche, die Alltagsseite dieser Arbeit denen, die glauben, sie könnten dieses Gebiet nicht verstehen oder müssten es ablehnen. Seien Sie sich bitte nicht zu gut dafür, diese so wichtige Arbeit auf sich zu nehmen. Gewinnen Sie uns Freunde – gerade auch unter den jungen Menschen, die heute in so erfreulicher Weise wieder weltoffen und kritisch sind." (Wolfram Keup 1986, X)

Ganz im Sinne dieses Aufrufes gehen in der Schweiz die Vertreter der biologischen Psychiatrie zunehmend in die Offensive und scheuen sich nicht, sogar den sehr problematischen Elektroschock anzupreisen. Das Wort Elektroschock jedoch würden die PsychiaterInnen am liebsten verbieten. Sie sprechen heute viel gewählter von "Elektrokonvulsions-Therapie", von "Elektrobehandlung" oder gar von "Elektroheilkrampfbehandlung". So Prof. W. Pöldinger, Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik in Basel: "Die 'Elektroheilkrampfbehandlung' ist auch heute noch eine sehr wirksame Methode, da sie vor allem endogene Depressionen in relativ kurzer Zeit intensiv beeinflusst. Der Grund, warum sie heute an vielen Orten nicht mehr angewendet wird, ist vor allem in einer sachfremden Kritik und einer Kampagne der Massen-Medien zu sehen." Walter Pöldinger, 1988, 89) Unterschlagen wird hier, dass von 1938 bis 1990 weltweit zwischen 10 und 15 Millionen elektrisch geschockt wurden. (Leonhard Roy Frank 1990, 493)

Der Ansicht von Prof. Pöldinger entsprechend beabsichtigt der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Königsfelden Mario Etzensberger, nach einem Unterbruch von 12 Jahren wieder Elektroschocks durchzuführen. Nachdem 1981 in der Schweiz die Zahl der geschockten Betroffenen auf 166 abgesunken war, waren es 1985 bereits wieder 520. Dieser Anstieg entspricht einer weltweit gültigen Tendenz. In den 90er Jahren ist mit einer weiteren Zunahme zu rechnen. Gemäss einer noch nicht veröffentlichten Umfrage der Zürcher Universitätsklinik Burghölzli plant jede zweite psychiatrische Klinik in der Schweiz, inskünftig vermehrt Elektroschocks anwenden. Eine erneute ablehnende Reaktion der Medien soll diesmal verhindert werden. Etzensberger ergriff die Gelegenheit, seine Ansicht zum Elektroschock in der Sendung "Schweiz aktuell" des Fernsehens DRS vom 24.1.92 zu erläutern. Womit er und weitere Psychiater offensichtlich nicht gerechnet hatte: In dieser Sendung wurde ein Elektroschock gezeigt und zwei Betroffene erzählten von ihren schlechten Erfahrungen mit dieser "Behandlungsmethode".

Doch Etzensberger geht es nicht nur um den Elektroschock. Es ist ihm ein wichtiges Anliegen, den Kontakt zwischen PsychiaterInnen und Medienleuten aller Art zu verbessern. Unter dem Titel "Königsfelder Seminar" fand deshalb vom 12. bis 14. März eine Begegnung zwischen JournalistInnen und Vertretern der Psychiatrie statt. Anwesend waren ungefähr 20 PsychiaterInnen aus Königsfelden, Basel, Bern, Solothurn, Zürich und annähernd ebenso viele Medienschaffende. Organisiert wurde die Tagung vom Ringier Verlag, der sie auch gemeinsam mit der Pharmafirma Kali Duphar sponserte.

Bereits in der Einladung zum Seminar hatte Dr. Etzensberger geschrieben: "Psychiatrie ist für viele Menschen ein ängstigendes Schreckgespenst. Kliniken sind Orte des Grauens, der Gewalt, der Manipulation, der chemischen Zwangsjacke. Endstationen ohne Hoffnung. (...) Enthüllungsjournalismus ohne sorgfältige Recherchen ist typisch für skrupellose Schreiberlinge, die die öffentliche Meinung manipulieren." Die Medienleute wurden mit Nachdruck angehalten, dieses böswillig verbreitete Schreckensbild zu korrigieren, appelliert wurde an ihre Informationspflicht, angesagt war Imagepflege und zwar dringlichst. Für Prof. Ernst stand nach der erwähnten TV-Sendung zum Thema Elektroschock fest: "Desinformation der Öffentlichkeit kann zur Grausamkeit gegenüber einer Minderheit besonders hilfsbedürftiger Kranker führen." (NZZ, 14.2.92) Auch während des Seminars wurde lange über die genannte Sendung diskutiert. Dem Fernsehjournalisten Theo Stich wurden vor allem zwei Vorwürfe gemacht. Einerseits hatte er die veraltete Methode (ohne Narkose und Muskellähmung) im Bild gezeigt, andererseits äusserten sich zwei Betroffene kritisch zum Elektroschock – dies, wohlverstanden, neben den Voten von drei Chefärzten von psychiatrischen Kliniken. Der eine Betroffene – er erinnerte sich nur an einen einzelnen Schock – hatte eben gerade erfahren, dass er 16 Stromstösse erhalten hatte. Nach mehr als zehn Jahren war hier also eine bleibende Gedächtnislücke vorhanden. Und dies obschon der Mann nach der modifizierten Methode behandelt worden war.

Was sind Elektrobehandlungen?

PsychiaterInnen verabreichen Elektroschocks vor allem Menschen, die als schwer depressiv, akut selbstmordgefährdet oder als "schizophren" (akute bedrohliche "Katatonien") diagnostiziert wurden – dies weil Antidepressiva und Neuroleptika einerseits weniger wirksam seien und andererseits unangenehmere und gefährlichere Nebenwirkung haben. Diese Argumentation ist unhaltbar, da "depressiven" Menschen zusätzlich zu den Elektroschocks während Monaten Antidepressiva gegeben werden. Und auch bei der Behandlung der "Schizophrenie" wird kaum je auf die Verschreibung von Neuroleptika verzichtet, die Kombination von Elektroschock und Neuroleptika wird vielmehr als "sinnvoll" bezeichnet.

Was hier in einer medizinischen Terminologie vertreten wird ist in der Tat, wie Mariella Mehr richtig sagt, die Bankrotterklärung der Psychiatrie. Elektroschock als therapeutische Praxis lässt sich, nach allem, was darüber bekannt ist, nicht rechtfertigen. 1952 wurde das erste Neuroleptikum eingeführt, 1957 das erste Antidepressivum entdeckt. Die Einführung dieser Psychopharmaka wurde als Wende, als Beginn eines neuen Abschnittes der Psychiatriegeschichte gefeiert. Von nun an konnten PsychiaterInnen in beruhigten Spitälern Medikamente verordnen. Die Zeit der lauten Irren-Anstalten, die Zeit der grausamen Behandlungs-Methoden – u.a. Lobotomie (psychochirurgischer Eingriff) und Elektroschocks – die in den 30er Jahren eingeführt wurde, sei vorbei, glaubte man damals. Und heute wird erneut der Elektroschock propagiert, eine "Behandlung" die bereits vor der psychopharmakologischen Revolution des Jahres 1952 umstritten war.

Es wird nun zwar von den Befürwortern behauptet, dass die Elektroschock-"Behandlung" wesentlich verbessert sei.

Die modifizierte Methode (sie wird in Narkose durchgeführt, die Krämpfe werden durch muskellähmende Medikamente verhindert und beide Elektroden werden auf der nicht-dominanten Seite des Gehirns- unilateral – angesetzt) sei neu besser, humaner, bewirke kaum mehr Gedächtnisstörungen. Doch bereits 1940 wurde das Pfeilgift Curare (das Muskellähmung bewirkt) verwendet, Anfang der 50er Jahre wurden Schocks am narkotisierten Betroffenen durchgeführt, und die unilaterale Plazierung der Elektroden wurde Ende der 50er Jahre eingeführt (Frank). Narkose und Muskellähmung verhindern, dass Krämpfe sichtbar werden; doch im Gehirn – das Elektroencephalogramm zeigt es – löst der elektrische Strom unverändert dieselben Krampfpotentiale aus. Und es gibt nun auch die Gefahr eines Narkosezwischenfalls. Die unilateralen Applikation bewirkt etwas geringfügigere sprachliche Gedächtnisstörungen. Doch geschädigt werden nun Strukturen der nicht-dominanten Hemisphäre (bei 80 bis 90% der Menschen ist es die rechte), ihr wird die Speicherung und Verarbeitung von visuellen, räumlichen, musikalischen und emotionalen Eindrücken zugeordnet, sie ist auf die Wahrnehmung ganzheitlicher Zusammenhänge ausgerichtet. Verschiedene Medikamente (Benzodiazepine und Barbiturate), die zur Beruhigung vor dem Schock und zur Narkoseeinleitung gegeben werden, erhöhen die Krampfschwelle. Es muss deshalb gesamthaft mehr elektrische Energie (grössere Stromstärke oder längedauernde Stromstösse) angewendet werden, um den aus psychiatrischer Sicht notwendige Grandmal-Anfall (grosser, resp. generalisierter epileptischer Krampfanfall) von mindestens 35 Sekunden Dauer auszulösen. Zudem kommt es bei der unilateralen Anwendung auf kleinerem Gebiet zu grösseren Stromkonzentrationen, was die Gefahr der Gehirnschädigung in diesem Bereich zusätzlich erhöht. Zudem muss betont werden, dass es auch unter Befürwortern des Elektroschocks namhafte Gegner der unilateralen Methode gibt. Der bekannte Lothar Kalinowsky gibt an, dass eine Mehrheit der "Elektroschocker" wiederum die bilaterale Methode anwenden würden, weil diese viel wirkungsvoller sei. Auch Sackheim sowie Hippius, Klein, Decina, Prohovnik, Malitz und Abrams betonen, dass die unilaterale Methode weniger wirkungsvoll sei (1). Die eben nur leicht modifizierte Methode ist demnach weder neu, besser noch grundsätzlich humaner. Mit dem Hochspielen dieser sogenannten Verbesserungen soll "wissenschaftlich" begründet von einem ausserordentlich wichtigen Sachverhalt abgelenkt werden. Weltweit wird die Kritik der Psychopharmaka lauter und lauter. Der Widerstand der Betroffenen gegenüber dieser Behandlung nimmt von Jahr zu Jahr zu. Die Abnahme der Zahl der Elektroschock-Behandlungen in den 70er-Jahren (2) ging, wie verschiedene Schweizer-PsychiaterInnen angeben, auf die "unkundige und tendenziöse" Berichterstattung in den Massenmedien zurück. Das bis heute vorwiegend "lautlose Comeback" (Spiegel) des Elektroschocks hat meiner Ansicht nach viel mit der zunehmenden Ablehnung der Psychopharmaka zu tun.

Je nach Anzahl und Intensität der Elektroschock-Behandlungen (üblicherweise werden im Laufe von zwei bis drei Wochen 8 bis 12 Stromstösse appliziert) leidet der Betroffene beim Erwachen an einem akuten hirnorganischen Psychosyndrom. Charakteristisch dafür sind: eine zeitliche, räumliche und personenbezogene Verwirrung und Desorientiertheit, Gedächtnisstörungen, insbesondere bezogen auf unmittelbar vorangegangene Ereignisse, zudem eine allgemeine Störung aller intellektuellen Funktionen wie Verständnis, Lernen und abstraktes Denken sowie eine Beeinträchtigung der Urteils- und Kritikfähigkeit und "verflachte" beziehungsweise unangemessene emotionalen Reaktionen, wechselnd von Euphorie bis Apathie, häufig heftige Kopfschmerzen, Übelkeit körperliche Erschöpfung und Unwohlsein. Die Betroffenen fühlen sich sehr hilflos und ängstlich.

Peter Breggin vergleicht die Resultate der modifizierten und der ursprünglichen Methode genau: "Die neue Literatur zur modifizierten Methode enthält weniger Autopsieberichte. Damit kann man nicht die Ansicht verbinden, die Sterbeziffer habe abgenommen." Vielmehr gehe aus verschiedenen Publikationen hervor, dass vor allem die medikamentös erzeugte Muskellähmung und die Anästhesie die Sterblichkeitsrate erhöhe. (Peter Breggin 1980, 83) Die Ursache der Todesfälle sind unter anderem Hirnblutungen und Herzversagen.(3)

"Da sich der elektrische Strom als Hauptursache der Schädigungen erwiesen hat, sind gleichartige Auswirkungen der modifizierten und der unmodifizierten Methode nicht weiter erstaunlich." (Peter Breggin 1980, 85)

Tierexperimente belegen, dass Elektroschocks schwere und häufig bleibende Hirnschädigung verursachen. Auch Autopsien des menschlichen Gehirns weisen ähnliche Zerstörungsmuster nach. Die häufigsten Befunde sind diffuse Verletzungen kleiner Blutgefässe, Gefässwandveränderungen, petechiale (mr: punktförmige) Blutungen, Gliawucherungen (mr: die Glia ist das Stützgewebe des Zentralnervensystems), Degeneration und Tod von Neuronen. (Peter Breggin 1980, 58)

Verschiedene Autoren geben an, dass Frauen mindestens doppelt so oft geschockt werden wie Männer: U.a. wird dieser Befund von Thompson und Blaine erwähnt (Norman S. Enlder 1988, 29) auch die schweizerische Psychiaterin C. Ernst berichtet von einer Studie, die diesen Befund bestätigt (C. Ernst 1982, 1399). Peter Breggin erwähnt verschiedene Studien, die das Verhältnis zwischen geschockten Frauen und Männern mit 2:1, 2,35:1 und 3:1. angeben (Peter Breggin, 1980,.23, 167, 238). Leonhard Frank schreibt, dass Frauen mehr als zwei Drittel der Elektroschocks erhalten (L. Frank 1990, 494). Und es wird auch behauptet, dass Frauen besser auf Elektroschocks ansprechen als Männer. (Breggin 1980, 225.) Dies entspricht genau der Angabe des Psychochirurgen Walter Freeman, dass Frauen auf die Lobotomie besser reagieren als Männer, Schwarze besser als Weisse (Stephan L. Chorover 1982, 224) Dementsprechend wurde häufig die Empfehlung publiziert, dass nur Menschen geschockt werden sollen, bei denen Gedächtnis und intellektuelle Fähigkeiten keine besondere Bedeutung für die Sicherung des Lebensunterhaltes haben. (Peter Breggin 1980, 225) Ferner sprechen gemäss Pollack und Fink im Ausland geborene und beruflich weniger qualifizierten Personen eher "besser" auf Elektroschocks an. (Peter Breggin, 1980, 225) Dem psychiatrischen Blick fällt es offensichtlich leicht einerseits, die Frau generell als minderwertiger zu betrachten, andererseits wird gleichzeitig festgelegt, dass sie ihren allenfalls vorhandenen Verstand, ihre intellektuelle Urteils- und Kritikfähigkeit sowie Kreativität weniger dringend benötigt als Männer.

Die als Folge der Elektroschock-"Behandlung" auftretende allgemeine Verunsicherung und die Gedächtnisstörungen führen dazu, dass die Bezugspersonen der Betroffenen vergangene Situationen und Ereignisse nach ihrem eigenen Ermessen neu definieren können. Der Patient, dessen Gehirn in seiner Funktion gestört ist, ist auf subtile Weise abhängig und beeinflussbar. Wenn die Erinnerung des einen Partners in einem gewissen Ausmass gelöscht ist, dann verändert sich die fortlaufend stattfindende Rekonstruktion der Realität. Diejenigen, die die Realität definieren, kontrollieren sie auch. Die Macht verschiebt sich weg vom Betroffenen der Elektroschock-Behandlung hin zu seiner Umgebung – zu seinen Ärzten (4), Schwestern, Pflegern und auch zu seinen Angehörigen (L.Frank 1990, 508)

Zur Geschichte des Elektroschocks

Es erstaunt nicht, dass die PsychiaterInnen an der Geschichte des Elektroschocks mit starrem Blick vorbeisehen. Um so wichtiger ist es diese Geschichte und ihre Hintergründe näher zu beleuchten. In den 30er Jahren- zu einer Zeit, als die Psychiatrie von eugenischem Gedankengut beherrscht war – wurde vom Psychiater L. von Meduna die Hypothese aufgestellt, dass Epilepsie und Schizophrenie einander ausschliessen. So waren die Psychiater auf der Suche nach Methoden, die beim Menschen epileptische Krampfanfälle auslösen können. Meduna versuchte es 1934 zunächst mit Campher später, noch im selben Jahr, mit Cardiazol. Doch noch immer wurde weitergesucht.

Ugo Cerletti, seit 1935 Professor in Rom, setzte auf die Elektrizität und hatte bereits mit Hunden experimentiert. Bis im Frühjahr 1938 hatte es Cerletti im faschistischen Italien noch nicht gewagt, Menschen elektrischen Strom durch den Kopf zu leiten. Dieser Schritt erschien ihm zu gewagt. Da hörte er von einem Kollegen, dass im Schlachthaus von Rom, Schweine durch elektrischen Strom getötet wurden. "Ich fuhr zum Schachthof, um die sogenannte elektrische Schlachtung zu beobachten. Ich sah, dass den Schweinen grosse metallene, elektrisch geladene Zangen (125 Volt) an den Schläfen befestigt wurden. Sobald die Schweine mit den Zangen in Berührung kamen, fielen sie bewusstlos um, erstarrten und wurden nach einigen Sekunden von denselben Krämpfen geschüttelt wie unsere Versuchshunde. Während dieser Zeit der Bewusstlosigkeit (epileptisches Koma) stach der Schlächter die Tiere ohne Schwierigkeiten ab und liess sie ausbluten. Deshalb stimmt es nicht, dass die Tiere durch den elektrischen Strom getötet wurden. (...) Mir schien, dass die Schweine im Schachthof das wertvollste Material für meine Versuche bilden könnten." (F. Basaglia 1980, S. 238f)

Cerletti, der sich gerne Maestro nannte, setzte daraufhin seine Versuche mit den Hunden fort. Endlich gab er seinem Assistenten die Anweisung, nach einer "geeigneten" Versuchsperson Ausschau zu halten. Bald war der "geeignete" Mann gefunden. S.E. wurde am Bahnhof verhaftet, weil er ohne Fahrkarte kurz vor der Abfahrt in Zügen umherlief. S.E. wurde ausgewählt, ohne dass er seine Einwilligung zu dieser "Behandlung", über die er auch nicht informiert worden war, gegeben hatte. Nach einem ersten Stromstoss von 80 Volt und 0,2 Sekunden Dauer zuckte der Mann, seine Muskulatur erstarrte; dann fiel er, ohne dass er das Bewusstsein verloren hatte auf das Bett zurück. "Natürlich befanden wir, die wir das Experiment durchführten, uns unter höchster emotionaler Anspannung und dachten, dass wir bereits ein ziemliches Risiko in Kauf genommen hatten. Trotzdem war uns allen klar, dass wir eine zu geringe Voltzahl gebraucht hatten. Es wurde vorgeschlagen, dem Patienten ein wenig Ruhe zu gönnen und das Experiment am folgenden Tag zu wiederholen. Plötzlich sagte der Patient, der unserer Unterhaltung offensichtlich gefolgt war, klar und bestimmt, ohne das bisher von ihm gewohnte Kauderwelsch. 'Nicht noch einmal! Es ist tödlich!'" (F. Basaglia 1980, 239/240) Maestro Cerletti zögerte kurz und entschloss sich dann, das Experiment fortzusetzen. Dennoch war Cerletti von dieser ersten Anwendung des Elektroschocks stark beeindruckt, ja entsetzt. "Als ich die Reaktion des Patienten sah, sagte ich mir: Das muss wieder abgeschafft werden. Seither habe ich die Zeit herbeigesehnt, in der eine andere Behandlungs-Methode den Elektroschock ablösen wird." (L. Frank 1990, 493. Peter Breggin 1980, 256) Cerletti hatte gewiss nicht damit gerechnet, dass seine Methode in den 80er und 90er Jahren ein "Comeback feiern wird".

Wichtige Beweggründe für die erste Anwendung des Elektroschocks am Menschen durch Cerletti waren demnach die heute als falsch bezeichnete Hypothese, dass Epilepsie und Schizophrenie sich ausschliessen und seine Beobachtungen im Schlachthaus.

Bekannt ist, dass psychiatrische Diagnosen wissenschaftlicher Kritik nicht standhalten. Die endogenen Psychosen ("Schizophrenie" und die "manisch-depressiven Krankheiten") sind Konstrukte. Die Diagnosestellung beruht auf subjektiven Einschätzungen der Experten. Die Behandlungsmethoden der biologisch ausgerichteten Psychiatrie werden demnach oft in einer Grauzone angewendet, die kaum etwas mit Heilverfahren jedoch viel mit sozialer Kontrolle, Gehirnwäsche und Folter zu tun haben. Viele Dissidenten in der früheren Sowjetunion wurden u.a. mit den Neuroleptika Chlorpromazin (Largactil) und Haloperidol (Haldol) "behandelt". Auch in vielen Gefängnissen der ganzen Welt werden diese Medikamente eingesetzt. Dass auch der Elektroschock früher oder später die Aufmerksamkeit der staatlichen Repressionsapparate auf sich ziehen musste war zu erwarten. (5)

Früher wurde noch offen zugegeben, dass der Elektroschock weniger als Behandlung denn als Disziplinierungsmassnahme eingesetzt wurde. Breggin zitiert eine deutliche Stellungsnahme der Ärzte von hospitalisierten Frauen, deren Leiden als chronisch bezeichnet wurde: "Unser Ziel war nicht die Heilung. Es beschränkte sich auf die Verbesserung des Verhaltens auf der Station. (...) Innerhalb von zwei Wochen nach Beginn der intensiven Elektroschockbehandlung wandelte sich die Atmosphäre der Station völlig. Aus einer unruhigen, chronischen Station war eine ruhige, chronische Station geworden. Streitsüchtiges Verhalten der Patientinnen verringerte sich dramatisch." (Peter Breggin 1980, 185/186)

Werden psychiatrische Behandlungsmethoden ausserhalb der psychiatrischen Anstalt (oder der Praxis des Psychiaters) angewendet, funktionieren sie nicht mehr als "Therapie" sondern klar erkennbar als Folter. Wie ist das zu erklären? In der Sicht der offiziellen Psychiatrie wird der zwangseingewiesene "Patient", der gegen seinen ausdrücklichen Willen Neuroleptika gespritzt erhält, "behandelt". Gleichzeitig vertreten viele PsychiaterInnen die Auffassung, dass es einen schweren Missbrauch ihres Berufsethos bedeutet, wenn politische Gefangene gegen ihren erklärten Willen Neuroleptika zu sich nehmen müssen. Doch so grundsätzlich verschieden, wie das auf den ersten Blick erscheinen mag, sind diese beiden "Behandlungen" nicht. Die Dissidenten der Sowjetunion setzten sich über soziale Normen hinweg. Ihr Verhalten konnte mit guten Gründen als uneinfühlbar und "asozial" bezeichnet, und folglich psychiatrisiert werden. Es ist somit ein Gemeinsames zwischen der "Behandlung" der "geisteskranken" Insassen unserer Anstalten und derjenigen der sowjetischen Dissidenten gegeben. Uneinfühlbares Verhalten wird als "psychotisch" diagnostiziert und medikamentös behandelt. Die Absicht ist dieselbe – der Betroffene soll falschen, kritische und subversiven Ansichten abschwören und konforme übernehmen. Gehirnwäsche also hier wie dort.

Elektroschocks werden vorwiegend bei Frauen, älteren Menschen – ein Alter unter 35 Jahren gilt als relative Kontraindikation – und Angehörigen niedriger sozialer Schichten angewendet. (Es kommt jedoch auch immer wieder vor, dass Jugendliche, Kinder ja sogar selten auch Kleinkinder geschockt werden. (6) Fehlende Leistungsfähigkeit wird als medizinisches Problem definiert, das biologisch behandelt werden muss – durch vorübergehende oder bleibende Schädigung des menschlichen Gehirns. Mit dieser Praxis vertritt die Psychiatrie einen verhängnisvollen Biologismus, der heute bekanntlich auch in verwandten Bereichen zunehmend aktueller wird. Ich denke an die eugenische Stossrichtung der heutigen Humangenetik. Der "schizophrene", der "manisch-depressive" Mensch sollte im Sinne dieser Ideologie keine Nachkommen haben und damit gleichsam abgeschafft werden. Es ist vom medizinisch-industriellen Interesse her gesehen einfacher organisch-biologische, vererbte Defekte mit Psychopharmaka und elektrischem Strom zu "behandeln" statt psychosoziale Ursachen und zwischenmenschliche Konflikte in anspruchsvollen Therapien aufzudecken und zu bearbeiten. In der Definition sozialer Problem spiegeln sich die Interessen politisch mächtiger Einzelpersonen und Institutionen wider. Und es liegt im Interesse dieser Definitionsmacht mittels Diagnosen solche Lösungen und "Heilverfahren" anzubieten, die ihr die Kontrollgewalt sichert. (7) Wer soziale Schwierigkeiten, wer mangelnde Leistungsfähigkeit, wer psychisches Leiden als biologisch zu behandelnde Störungen definiert übt deshalb Macht aus, genauso wie derjenige, der fiktive biologische Störungen mit Neuroleptika oder mit Elektroschocks behandelt.

Weitere Gründe gegen die Anwendung von Elektroschocks

Seit jeher reagierte, wer von der Idee, beim Menschen Elektroschocks anzuwenden, hörte, mit Bestürzung und Besorgnis und grosser Angst. Der Elektroschock wird auch heute noch mit Grausamkeit, Folter und elektrischem Stuhl assoziiert. Kaum jemand, der nicht mit Furcht und Entsetzen reagiert, wenn er sich selbst als Opfer einer derartigen Tortur vorstellt. Cerletti selbst berichtet: "Die Idee, Menschen krampfauslösendem Stromstössen auszusetzen, wurde jedoch als utopisch, barbarisch und gefährlich beurteilt. Jeder verband damit die Vorstellung vom elektrischen Stuhl." (Peter Breggin 1980, 198) Es ist anzunehmen, dass auch PsychiaterInnen, bevor sie beruflich mit dieser "Therapie" zu tun haben, auf das Wort Elektroschock genauso entsetzt reagieren. Was bedeutet das nun, wenn es ihnen gelingt, ihre spontane Abscheu zu verdrängen, wenn es ihnen gelingt, an den Gefahren und Nachteilen des Elektroschocks vorbeizusehen? Es ist für mich unter anderem unfassbar, wie von den Befürwortern der "modifizierten Methode" jeweils die Vorteile der unilateralen Anwendung hochgejubelt werden – Abnahme der verbalen Gedächtnisstörungen – ohne mit einem einzigen Satz die Funktion der dabei vermehrt geschädigten nicht-dominanten Hirnhälfte zu erwähnen. Die nicht-dominante Hemisphäre ist unter anderem für die Wahrnehmung und Speicherung visueller, räumlicher und emotionaler Eindrücke und die Wahrnehmung ganzheitlicher Zusammenhänge zuständig. Es wäre absurd zu behaupten, dass diese Funktionen unwichtig seien. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, dass genau diejenigen Möglichkeiten menschlichen Lebens, die mit der "modifizierten Methode" geschädigt werden, für ein sinnerfülltes und menschenwürdiges Leben besonders wichtig sind. Ein Unterschied besteht dennoch. Verbale Gedächtnisstörungen fallen bei oberflächlichem Kontakt eher auf. Andere Schädigungen werden eher übersehen.

PsychiaterInnen, vor allem diejenigen, die in einer Anstalt arbeiten, sind im Besitze von viel Macht über andere Menschen. Der Versuchung, mögliche und erlaubte Macht auszuüben, zu widerstehen ist ausserordentlich schwer. Wie ich bereits ausführte (M. Rufer 1991, 164) vertrat der bekannte Emil Kraepelin die Auffassung, dass der Psychiater, der Mächtige sein müsse, seine Wissenschaft bestehe aus den Mitteln, den Patienten zur Vernunft zu bringen und sich die unbedingte Herrschaft über das Gemüt des Kranken zu sichern. In den Taten – nicht in den Worten – der heutigen PsychiaterInnen ist diese Grundhaltung noch immer auszumachen.

Wer Elektroschocks anwendet, der lebt damit in kleineren oder grösseren Ausmass seine eigenen sadistischen Tendenzen aus (Marc Rufer 1991, 136ff. 143ff). Gleichzeitig wird er zum Mittäter des in der Psychiatrie institutionalisierten Sadismus, insofern er das mit der einseitigen Machtverteilung in der Psychiatrie verbundene Gewaltpotential nicht bewusst durchschaut. All dies verteidigt er zum "Wohle" seiner PatientInnen vehement, solange er als überzeugter Vertreter (Vertreterin) seines Faches auftritt. (8) Bestätigung findet der Sadismus der PsychiaterInnen, wenn sie mit Elektroschocks und Neuroleptika eine so grosse Verwirrung, Unsicherheit und damit verbundenen Abhängigkeit der "behandelten" Menschen herstellen, dass einige genau die Methode, mit der sie grausam gequält werden, zu loben beginnen.

Was lässt denn Elektroschocks bisweilen als eine erfolgreiche Behandlung erscheinen? Hirngeschädigte Menschen geben meist ihre Störungen nicht zu. Sie verleugnen und vertuschen ihren Zustand. Betroffene, die den grössten Gedächtnisverlust aufweisen, klagen darüber am wenigsten. Ihre Ausfälle sind fast immer grösser, als sie selbst es zugeben. Sie tun dies aus Scham. Eine häufige Form der Verleugnung und des Überspielens der erlittenen Schädigung ist die Euphorie, sie ist ein Versuch, der anderen einfühlbaren und ebenfalls oft zu beobachtenden Reaktion, der Apathie, auszuweichen. Was von den PsychiaterInnen als Heilung einer Depression verstanden wird, ist sinnvollerweise als euphorische Überspielung der – durch die Elektroschock-"Behandlung" – erlittenen Schädigung zu verstehen. Dazu kommt, dass der Betroffene sich nun auch seine ursprüngliche psychische Problematik verleugnet oder, dass er sich – auch als Folge der Behandlung – nicht mehr an die Ursache seines Leidens erinnern kann.

Es ist verständlich, dass die PsychiaterInnen wissenschaftlichen Erklärungen für die "heilende" Wirkung des Elektroschocks suchen. Nur: Sie sind bis heute nicht fündig geworden. Die Psychiaterin Cécile Ernst hat in ihrem Exposé zuhanden der medizinisch-ethischen Kommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften nichts als Hypothesen anzubieten: "Was ist der neurophysiologische Wirkungsmechanismus des Anfalls? Darüber gibt es vorläufig erst Hypothesen. Schwere Depressionen sind mit einem Transmittermangel verbunden. Die EB setzt Transmitter frei, welche möglicherweise die neurodendokrine Aktivität im Hypothalamus stimulieren. (...) Nach dieser sogenannten 'Theorie der diencephalen Stimulation' würde die EB also den in schweren Depressionen daniederliegenden Stoffwechsel im Zwischenhirn anregen." (C. Ernst 1982, 1397,1398) Recht wenig Klarheit, bedenkt man den schwerwiegenden, angstauslösenden, persönlichkeitsverändernden Eingriff. Im übrigen bewegen sich die biologisch-orientierten PsychiaterInnen sehr deutlich im Kreis. Auf Grund einer unspezifischen Wirkung er Neuroleptika und Antidepressiva, konstruierten sie in fahrlässiger Weise Hypothesen, die die Schizophrenie (Dopamin-Hypothese) und die Depression (Transmittermangel) erklären sollten. Nun wird diese Hypothese auch gleich zur Begründung der "Heilwirkung" des Elektroschocks herbeigezogen und damit der Blick von der augenfälligen Schädigung von Menschen abgelenkt.

In ihrem Exposé führt Frau Ernst aus, dass in den USA zum Teil Gesetze bestehen, die den Patienten im Fall des Elektroschocks vor einer rechtsverletzenden Massnahme des Arztes schützen sollen: In einem Bundesgerichtsentscheid der sich auf Alabama bezog, wurde der Elektroschock 1973 als aussergewöhnliche und risikoreiche Methode dargestellt. Die Durchführung von Elektroschocks war danach so erschwert, dass in Alabama seither keine Elektroschocks durchgeführt wurden. Auch in Kalifornien gilt der Elektroschock als ungesicherte Therapie von zweifelhafter Wirksamkeit, die mit fragwürdiger Indikation durchgeführt werden. (C. Ernst 1982, 1400) Frank gibt an, dass diese gesetzlichen Bestimmungen auf die Aktivitäten von Organisationen Psychiatrie- und Elektroschock-Überlebender zurückzuführen sei. (L Frank 1990, 494/495) In den meisten Ländern ist die Anwendung des Elektroschocks für die behandelnden Ärzte besser als das in der Schweiz der Fall ist. Aus einer von Frau Ernst bei allen psychiatrischen Kliniken der Schweiz durchgeführten Umfrage geht klar hervor, dass in der Schweiz Elektroschocks auch ohne Einwilligung der Betroffenen angewendet werden.

Frau Ernst beschreibt abschliessend die "Elektrokrampfbehandlung" als im Vergleich zur Pharmakatherapie ungefährliche und nebenwirkungsarme "Behandlung": "Sie gibt nicht in höherem Mass Anlass zu besonderen gesetzlichen Massnahmen als unzählige andere medizinische Therapien. Die Forderung nach solchen besonderen rechtlichen Schranken geht auf unkundige und tendenziöse Information durch die Massenmedien zurück, welche die EB zum Symbol einer repressiven Psychiatrie gemacht haben." (C. Ernst 1982, 1404, Hervor. original)

Ich habe demgegenüber hier aufgezeigt, dass der Elektroschock eine menschenunwürdige "Behandlungsmethode" ist, die in der düstersten und grausamsten Zeit der Psychiatriegeschichte auf Grund von irrigen Annahmen und Überlegungen eingeführt wurde. Meiner Ansicht nach muss die Anwendung des Elektroschocks gesetzlich verboten werden.

Und es ist meines Erachtens Aufgabe einer kritischen und solidarischen Medienberichterstattung, unnachgiebig und unermüdlich auf die gravierenden Folgen des Elektroschocks für die Betroffenen aufmerksam zu machen.

Anmerkungen

  1. Normann S. Endler, 1988, 26,50, 123 und R. Pohl, 1990, 197

  2. Nach Tompson und Blaine ging zwischen 1975 und 1980 die Zahl der "Elektroschockbehandlungen" weltweit um 46% zurück (Norman S. Endler, 1988, 29)

  3. Diese Sterblichkeitsrate wird oft mit 1:1000 angegeben. Einzelne Berichte gehen weit darüber hinaus. Bei alten Menschen liegt die Rate bei 1:200. (Peter Breggin, 1980, 85/86)

  4. Als ein interessantes Beispiel, auf welche "therapeutischen" Phantasien PsychiaterInnen kommen können, sei hier die ELT-Therapie von H.C. Tien erwähnt: Eine Frau wollte sich scheiden. "Sie liebe ihn nicht, er sei nie zu Hause und schlage sie in Gegenwart der Kinder. Unter der Drohung, ihr Mann würde versuchen, die Vormundschaft über die Kinder zu erhalten, willigte sie in die Therapie ein." Nach jedem Elektroschock wurde sie von ihrem Mann mit der Flasche gefüttert und "neu programmiert". Sie sollte zur Einsicht kommen, dass ihre frühere Persönlichkeit schlecht, die neue, fügsamere dagegen gut sei: E(Elektrizität) + L(Liebe) = T(Therapie): ELT. (Peter Breggin 1980, 192)

  5. Am 2. August 1977 fand sich in der New York Times eine Frontseiten Reportage über das MKULTRA 'mind control' Projekt der CIA, das in den frühen 50er Jahren insgeheim anlief. Der u.s.amerikanischen Psychiater, D. Ewen Cameron kombinierte medikamentösen Dauerschlaf, intensive Elektroschocks und hohe Dosen des Neuroleptikums Chlorpromazin. Es wurde schliesslich eine komplette Amnesie (Gedächtnisausfall) für alle Ereignisse des Lebens der Betroffenen hergestellt. Macdonald, der diese "Behandlung" über sich ergehen lassen musste: "Meine Eltern besuchten mich. Ich erkannte sie nicht. Meine fünf Kinder kamen zurück. Ich hatte keine Idee, wer sie waren." Wenn Cameron das leere Gedächtnis produziert hatte, konnte er neue Verhaltensmuster einprogrammieren. Camerons Methode der Gehirnwäsche – worüber die psychiatrische Fachwelt durch verschiedene Publikationen informiert war – wurde erst zum Skandal, als die finanzielle Beteiligung der CIA an diesem Projekt aufgedeckt wurde. (L. Frank 1990, 507, 508)

  6. Angaben dazu finden sich in: Max Fink 1990, 15 und L. Frank 1990, 494

  7. siehe dazu: Stephan L. Chorover 1982, 167

  8. "Der Sadismus geht auf einen wesentlichen Impuls zurück, einen anderen Menschen völlig in seiner Gewalt zu haben, ihn zu einem hilflosen Objekt des eigenen Willens zu machen, sein Gott zu werden und mit ihm machen zu können, was einem beliebt. Ihn zu demütigen, zu versklaven, das sind Mittel zur Erreichung dieses Ziels, und das radikalste Ziel ist, ihn leiden zu lassen, denn es gibt keine grössere Macht über einen Menschen als die, dass man ihn zwingt, Leiden zu erdulden, ohne dass er sich dagegen wehren kann." (Erich Fromm in: Marc Rufer 1991, 143f)

Literatur

  • Franco Basaglia, Franca Basaglia (Hg.), 1980: Befriedigungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt/M.

  • Peter Breggin, 1980: Elektroschock ist keine Therapie, München, Wien, Baltimore

  • Stephan L. Chorover, 1982: Die Zurichtung des Menschen. Frankfurt/M.

  • N.S. Endler, E. Persad, 1988: Electroconvulsive Therapie. Toronto, Lewiostin, New York, Bern, Stuttgart

  • Cêcile Ernst, 1982: Schweizerische Ärztezeitung, 63

  • Max Fink, Richard Weiner u.a., 1990: The Practice of Electroconvulsive Therapy. A Task force Report of the American Psychiatric Association. Washington DC

  • Leonard Roy Frank, 1990: Electroshock: Death, Brain Damage, Memory Loss and Brainwashing: The Journal of Mind and Behavior, Vol. 11 [Deutsche Übersetzung: Elektroschock. In: Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken (1996, S. 287-319; E-Book 2022)]

  • W. Keup (Hg.), 1986: Biologische Psychiatrie, Forschungsergebnisse. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo

  • R. Pohl, S. Gershon (Hg.), 1990: The Biological Basis of Psychiatric Treatment. Vol. 3. Basel, München, Paris, London, New York, New Delhi, Bangkok, Singapore, Tokyo, Sydney

  • W. Pöldinger, 1988: Therapiewoche Schweiz, Heft 2, Sept.

  • Marc Rufer, 1991: Wer ist irr? Bern