Homepage des Antipsychiatrieverlags Korrigierte Fassung; original in: Mitgliederrundbrief
des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BRD), 1997, Nr. 2, S. 10-11
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Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka: Pro und ContraVon einer Vertreterin von Psychiatriebetroffenen Südosteuropas wurde ich vor einem Jahr aufgefordert, eine Stellungnahme zum Pro und Contra der Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka zu verfassen. Meinen Entwurf stellte ich auf einem Vortrag bei der dritten Delegiertenkonferenz des European Network of (ex-)Users and Survivors of Psychiatry (= Europäisches Netzwerk von Psychiatriebetroffenen) vor, die vom 3. bis 7. Januar 1997 in Reading bei London stattfand. Als erstes Ergebnis wurde in Reading beschlossen, den Entwurf (in englischer Übersetzung) im Rundbrief des Europäischen Netzwerks zu publizieren mit der Bitte um Kommentare und Verbesserungsvorschläge. Bei der nächsten Konferenz in zwei Jahren soll dann eine gemeinsame Stellungnahme verabschiedet werden. Nach der Diskussion fügte ich den unterstrichenen Satz unten hinzu, da moniert wurde, dass die Position der Leute, die Psychopharmaka einnehmen und derzeit keine Alternative sehen, im ersten Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt war. Pro und contra psychiatrische PsychopharmakaDie Bewertung der Verabreichung bzw. Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka ist ein ausgesprochen kontroverses Thema. Die Einnahme von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Antiepileptika (verabreicht als Psychopharmaka), Psychostimulantien (zu Dämpfungszwecken an Kinder verabreicht) und Tranquilizern kann zu Apathie führen, zu emotionaler Panzerung, Depressionen, Suizidalität, paradoxen Erregungszuständen, Verwirrtheits- und Delirzuständen, intellektuellen Störungen, Kreativitätseinbuße, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, epileptischen Anfällen, Schwächung des Immunsystems, Hormon- und Sexualstörungen, Chromosomen- und Schwangerschaftsschäden, Blutbildschäden, Störungen der Körpertemperaturregulation, Herzstörungen, Leber- und Nierenschäden, Haut- und Augenschäden, parkinsonoiden Störungen, Hyperkinesien, Muskelkrämpfen, Bewegungsstereotypen u.v.m. Andererseits machten viele Betroffene die Erfahrung, dass sie innerhalb ihrer Lebensverhältnisse derzeit ohne diese Psychopharmaka nicht zurechtkommen. An sich ist es Sache jedes einzelnen Menschen, selbst zu entscheiden,
ob sie oder er diese Substanzen einnehmen will, aus welchem Grund auch
immer. Allerdings stehen einer freien Entscheidungsfindung bzw. einer
libertären Grundhaltung folgende Argumente entgegen:
Aus all diesen Gründen ist der Einsatz psychiatrischer Psychopharmaka sehr skeptisch zu beurteilen. Nichtsdestotrotz sind die Entscheidungen der Betroffenen zur Einnahme von psychiatrischen Psychopharmaka zu respektieren: insbesondere wenn es ihnen gelingt, ausweglose und ansonsten die Auslieferung in die gewaltbereite institutionelle Psychiatrie nach sich ziehende Konfliktsituationen mit möglichst kurzfristiger, möglichst niedrigdosierter, möglichst wenig toxischer und demzufolge möglichst geringer Risikobelastung durch reflektierte und selbstbestimmte Psychopharmaka-Einnahme zu überstehen. Zu respektieren ist auch die Entscheidung von Betroffenen, egal aus welchen Gründen, in welcher Dosis, in welchem Zeitraum und mit welchem Zufriedenheitsgrad über die Aufklärung oder Nichtaufklärung psychiatrische Psychopharmaka einzunehmen. Besonderes Mitgefühl steht denjenigen Psychiatriebetroffenen zu, die durch psychiatrogene Nervenschädigungen gezwungen sind, dauerhaft psychiatrische Psychopharmaka einzunehmen, um in irgendwelcher Weise überlebensfähig zu sein. Gerade diese Betroffenengruppe macht deutlich, dass die Ersteinnahme psychiatrischer Psychopharmaka nach Möglichkeit zu vermeiden ist. Zu reflektieren ist das Spannungsverhältnis zwischen den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Betroffenen, denen die Definition ihrer Konflikte, Bedürfnisse und Risikobereitschaft zusteht, und der einzudämmenden Gefahr, die von dem Machtanspruch der biologischen Psychiatrie, verantwortungsloser Politiker, in innerfamiliäre Streitigkeiten verwickelter Angehörigenorganisationen und profitorientierter Pharmafirmen ausgeht. Es kann langfristig nur gemildert werden, wenn den Konsumentinnen und Konsumenten psychiatrischer Psychopharmaka sowie denjenigen Menschen, denen diese Substanzen gewaltsam verabreicht werden, diagnoseunabhängige Menschenrechte, ein einfacher Zugang zu finanzieller Entschädigung im Bedarfsfall, ein Recht auf psychopharmakafreie Hilfe und ein alternatives Angebot angemessener nichtpsychiatrischer Hilfe gewährt wird. [Nachtrag vom 4.7.2023: Heute würde ich dieser Liste noch Hilfeprogramme zur Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka hinzufügen.]Copyright by Peter Lehmann 1997 |