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Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka: Pro und Contra
Von einer Vertreterin von Psychiatriebetroffenen Südosteuropas
wurde ich vor einem Jahr aufgefordert, eine Stellungnahme zum Pro und
Contra der Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka zu verfassen. Meinen
Entwurf stellte ich auf einem Vortrag bei der dritten Delegiertenkonferenz
des European Network of (ex-)Users and Survivors of Psychiatry (= Europäisches
Netzwerk von Psychiatriebetroffenen) vor, die vom 3. bis 7. Januar
1997 in Reading bei London stattfand.
Als erstes Ergebnis wurde in Reading beschlossen, den Entwurf (in englischer
Übersetzung) im Rundbrief des Europäischen Netzwerks zu publizieren
mit der Bitte um Kommentare und Verbesserungsvorschläge. Bei der
nächsten Konferenz in zwei Jahren soll dann eine gemeinsame Stellungnahme
verabschiedet werden.
Nach der Diskussion fügte ich den unterstrichenen Satz unten hinzu,
da moniert wurde, dass die Position der Leute, die Psychopharmaka einnehmen
und derzeit keine Alternative sehen, im ersten Entwurf nicht ausreichend
berücksichtigt war.
BPE-Mitglieder sind hiermit aufgefordert, Kommentare und Verbesserungsvorschläge
entweder dem Vorstand oder (in Englisch) direkt zu schicken an: European
Newsletter Coordinator, Maths Jesperson, Lila Strandgaten 5, S-25223 Helsingborg,
Schweden.
Pro und contra psychiatrische Psychopharmaka
Die Bewertung der Verabreichung bzw. Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka
ist ein ausgesprochen kontroverses Thema. Die Einnahme von Neuroleptika,
Antidepressiva, Lithium, Antiepileptika (verabreicht als Psychopharmaka),
Psychostimulantien (zu Dämpfungszwecken an Kinder verabreicht) und
Tranquilizern kann zu Apathie führen, zu emotionaler Panzerung, Depressionen,
Suizidalität, paradoxen Erregungszuständen, Verwirrtheits- und
Delirzuständen, intellektuellen Störungen, Kreativitätseinbuße,
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, epileptischen Anfällen,
Schwächung des Immunsystems, Hormon- und Sexualstörungen, Chromosomen-
und Schwangerschaftsschäden, Blutbildschäden, Störungen
der Körpertemperaturregulation, Herzstörungen, Leber- und Nierenschäden,
Haut- und Augenschäden, parkinsonoiden Störungen, Hyperkinesien,
Muskelkrämpfen, Bewegungsstereotypen u.v.m. Andererseits machten
viele Betroffene die Erfahrung, dass sie innerhalb ihrer Lebensverhältnisse
derzeit ohne diese Psychopharmaka nicht zurechtkommen.
An sich ist es Sache jedes einzelnen Menschen, selbst zu entscheiden,
ob sie oder er diese Substanzen einnehmen will, aus welchem Grund auch
immer. Allerdings stehen einer freien Entscheidungsfindung bzw. einer
libertären Grundhaltung folgende Argumente entgegen:
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Die Betroffenen werden in aller Regel nicht über die tatsächlich
vorhandenen, möglichen und nicht auszuschließenden Risiken
aufgeklärt. Sie wissen nicht, dass manche Substanzen in den einen
Ländern vom Markt genommen wurden, in anderen Ländern jedoch
ohne Einschränkung verkauft werden: z.B. Penfluridol (Handelsnamen:
Cyperon, Flupidol, Longoperidol, Longoran, Micefal, Semap) wegen Krebsverdacht,
Remoxiprid (Handelsname: Roxiam) wegen Blutbildschäden, Triazolam
(Handelsnamen: Apo-Triazo, Dumozolam, Halcion, Novidorm, Novodorm,
Novo-Triolam, Nuctane, Nu-Triazo, Rilamir, Somniton, Songar, Triasan,
Triazoral) wegen Amnesien und Black-out-Handlungen.
-
Beteiligt an Zulassungsverfahren riskanter Substanzen für den
Pharmamarkt sind profitorientierte Firmen, finanziell von ihnen abhängige
oder gesponserte Mediziner sowie staatliche Gesundheitsbürokratien,
die bisher nicht den Beweis erbrachten, dass im Mittelpunkt ihres
Interesses die Gesundheit von Psychiatriebetroffenen und anderen EmpfängerInnen
geprüfter Substanzen stand. Betroffenen- und Patientenorganisationen
sind bei Entscheidungen über Zulassung oder Verbot von Psychopharmaka
grundsätzlich nicht beteiligt.
-
Die Beweislast bei Schmerzensgeld- und Schadenersatzklagen tragen
ausschließlich die Betroffenen. Nicht die finanziell
abgesicherten Herstellerfirmen müssen nachweisen, dass
ein eingetretener Schaden nicht durch ihre risikobehafteten Substanzen
verursacht wurde, sondern die in der Regel mittellosen
Geschädigten müssen in aufwendigen Verfahren beweisen, dass
ein Schaden einzig und ausschließlich auf das verabreichte Präparat
zurückzuführen ist.
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Sehr häufig erfolgt die Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka
unter Gewaltanwendung. Ein besonderes Verbrechen stellt die gewaltsame
Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka an Frauen in gebärfähigem
Alter dar, ohne auf mögliche Schwangerschaften Rücksicht
zu nehmen.
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Immer mehr wehrlosen alten Menschen werden diese Substanzen verabreicht,
um den Pflegenotstand chemisch zu managen. Immer mehr Kinder ohne
eigene Entscheidungsmöglichkeiten erhalten psychiatrische Psychopharmaka,
um sie chemisch in eine kinderfeindliche Umwelt einzupassen. Immer
mehr Frauen erhalten psychiatrische Psychopharmaka, um ihre störenden
Reaktionen auf patriarchalisch-bevormundende Lebensverhältnisse
chemisch zu neutralisieren. Immer mehr Menschen, die mit den Gesetzen
in Konflikt geraten sind, erhalten psychiatrische Psychopharmaka,
um sie in inhumanen Gefängnissen ruhigzuhalten oder bei Abschiebungen
ihren Widerstand zu brechen.
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Aufgrund inter- und intraindividueller Wirkungsunterschiede lässt
sich nie mit Sicherheit voraussagen, wie eine bestimmte Dosis eines
Präparats wirken wird. Alle bekannt gewordenen Schäden bei
allen Arten von psychiatrischen Psychopharmaka traten prinzipiell
dosisunabhängig und bereits nach relativ kurzer Zeit auf, teilweise
nach einmaliger Einnahme einer niedrigen Dosis.
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Immer mehr Menschen erhalten Kombinationen unterschiedlicher, in
ihrer Wirkungsüberlagerung und in ihren Wechselwirkungen unberechenbarer
Psychopharmaka.
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Alle psychiatrischen Psychopharmaka machen abhängig, wobei
die Verordner mit Ausnahme der Tranquilizer die abhängig machende
Wirkung der Substanzen abstreiten und die beim Absetzen möglichen
Entzugserscheinungen, Reboundphänomene, Supersensibilitätsreaktionen
der Rezeptoren sowie mögliche irreversible Psychopharmakaschäden
verschweigen oder gar zum Symptomwechsel umdefinieren: z.B. chronische
Angst nach längerer Antidepressiva- oder Tranquilizer-Verabreichung,
chronische Hirnschäden nach kombinierter Lithium-Neuroleptika-Verabreichung,
tardive Dyskinesien (Dystonien, Bewegungsstereotypen und Hyperkinesien)
sowie tardiven Psychosen nach Neuroleptikaverabreichung.
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Notwendige stationäre Einrichtungen zur klinischen Unterstützung
bei Absetzproblemen von psychiatrischen Psychopharmaka gibt es fast
gar nicht.
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Derzeit laufen Bestrebungen von Psychiatrieverbänden, Pharmafirmen
und von ihnen ideologisch beeinflussten oder finanziell ausgehaltenen
Angehörigenverbänden, insbesondere die lebenslängliche
Neuroleptikaeinnahme durch gesetzliche Maßnahmen, Perfektionierung
gemeindepsychiatrischer Überwachungssysteme und neue Verabreichungsformen
zu erzwingen.
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Ein Recht auf psychopharmakafreie Hilfe gibt es ebensowenig wie
nichtpsychiatrische Kriseneinrichtungen oder wie finanziell ausreichend
unterstützte Selbsthilfe- oder nutzerkontrollierte Einrichtungen.
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Keines der genannten psychiatrischen Psychopharmaka löst irgendwelche
psychischen Probleme sozialer Natur. In aller Regel erschweren sie
die Lösung dieser Probleme finde deren Bearbeitung statt
in individueller Selbsthilfe, Gruppenarbeit oder bezahlter Psychotherapie.
Nach Absetzen der Substanzen, wenn es überhaupt dazu kommt, sind
in aller Regel die Bedingungen schlechter, um die ursächlichen,
den Einsatz der psychiatrischen Psychopharmaka herbeigeführten
Probleme zu lösen.
Aus all diesen Gründen ist der Einsatz psychiatrischer Psychopharmaka
sehr skeptisch zu beurteilen. Nichtsdestotrotz sind die Entscheidungen
der Betroffenen zur Einnahme von psychiatrischen Psychopharmaka zu respektieren:
insbesondere wenn es ihnen gelingt, ausweglose und ansonsten die Auslieferung
in die gewaltbereite institutionelle Psychiatrie nach sich ziehende Konfliktsituationen
mit möglichst kurzfristiger, möglichst niedrigdosierter, möglichst
wenig toxischer und demzufolge möglichst geringer Risikobelastung
durch reflektierte und selbstbestimmte Psychopharmaka-Einnahme zu überstehen.
Zu respektieren ist auch die Entscheidung von Betroffenen, egal aus welchen
Gründen, in welcher Dosis, in welchem Zeitraum und mit welchem Zufriedenheitsgrad
über die Aufklärung oder Nichtaufklärung psychiatrische
Psychopharmaka einzunehmen. Besonderes Mitgefühl steht denjenigen
Psychiatriebetroffenen zu, die durch psychiatrogene Nervenschädigungen
gezwungen sind, dauerhaft psychiatrische Psychopharmaka einzunehmen, um
in irgendwelcher Weise überlebensfähig zu sein. Gerade diese
Betroffenengruppe macht deutlich, dass die Ersteinnahme psychiatrischer
Psychopharmaka nach Möglichkeit zu vermeiden ist.
Zu reflektieren ist das Spannungsverhältnis zwischen den individuellen
Bedürfnissen der einzelnen Betroffenen, denen die Definition ihrer
Konflikte, Bedürfnisse und Risikobereitschaft zusteht, und der einzudämmenden
Gefahr, die von dem Machtanspruch der biologischen Psychiatrie, verantwortungsloser
Politiker, in innerfamiliäre Streitigkeiten verwickelter Angehörigenorganisationen
und profitorientierter Pharmafirmen ausgeht. Es kann langfristig nur gemildert
werden, wenn den Konsumentinnen und Konsumenten psychiatrischer Psychopharmaka
sowie denjenigen Menschen, denen diese Substanzen gewaltsam verabreicht
werden, diagnoseunabhängige Menschenrechte, ein einfacher Zugang zu
finanzieller Entschädigung im Bedarfsfall, ein Recht auf psychopharmakafreie
Hilfe und ein alternatives Angebot angemessener nichtpsychiatrischer Hilfe
gewährt wird.
Copyright by Peter Lehmann 1997 |