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Eröffnungsrede zur Einweihung des Mahnmals für die
in Bethel von 1934 bis 1945 zwangssterilisierten Menschen
Dorothea-Sophie Buck-Zerchin
Verleugnet Vergessen
Am 18.
Juni 2000 wurde auf Initiative des Arbeitskreises »Trialog« in Bethel
ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der dort in der NS-Zeit zwangssterilisierten
Menschen eingeweiht. Die Autorin kennt die Kollaboration der Betheler Anstalten
mit dem NS-Regime und deren aktive Mitwirkung an der Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes
aus eigener leidvoller Erfahrung.
Als Kinder aßen wir
für Bethel Schwarzbrot. Einen halben Pfennig bekamen wir für jede verzehrte
Schnitte, weil sie gesünder als Graubrot sei. Den Erlös schickte mein
Vater für meine jüngere Schwester und mich an Pastor Fritz von Bodelschwingh.
In einem reizenden Brief dankte er uns fürs Schwarzbrotessen. Bethel wurde
in unserem Elternhaus, einem Pfarrhaus, als Inbegriff der christlichen Nächstenliebe
verehrt. Wir Kinder lasen den »Boten von Bethel« mit seinen anrührenden
Geschichten über die kranken Kinder voller Anteilnahme. Sogar bei der Einweihung
unseres von meinem Vater gezimmerten Kindergartenhauses wollte ich den »Boten
von Bethel« vorlesen. Mein älterer Bruder protestierte. »Unfrommes
Biest!« beschimpfte ich ihn.
Als Patientin in Bethel
Als ich
mit gerade 19 Jahren selbst 11 Wochen Patientin der geschlossenen »Unruhigen
Station« von »Haus Magdala« in Bethel war, einem »Haus für
Nerven- und Gemütsleiden«, wie es damals hieß, erlebte ich Bethel
ganz anders als wir es im »Boten von Bethel« gelesen hatten. Dieses
Bethel löste so tiefe Ängste in mir aus, wie ich sie nie zuvor und seither
erlebte. Am meisten ängstigte mich, dass niemand mit uns sprach. In meiner
neunmonatigen Zeit in diesem Haus erlebte ich nicht ein einziges Gespräch
der Ärzte und Hauspfarrer mit mir. Der Chefarzt kam jeden Morgen mit den
Assistenzärzten und der Hausmutter. Er gab uns die Hand und sagte »Guten
Morgen«, aber er sprach nicht mit uns. Als Schüler von Emil Kraepelin
beobachtete er nur unsere Symptome. Auch miteinander sollten wir Patientinnen
dieser Station nicht sprechen. Unsere beiden Hauspfarrer sprachen ebenfalls nicht
mit uns. Sie gingen von Bett zu Bett, ergriffen die Hand der darin liegenden Patientin
und sprachen einen Bibelvers, ohne ein persönliches Wort an uns zu richten.
Tiefer kann ein Mensch nicht entwertet werden, als ihn keines Gespräches
für wert oder fähig zu halten.
Quälende Behandlung mit Strafcharakter
An der hellgrünen Wand mir gegenüber stand in großer Schrift das
Jesuswort »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid.
Ich will euch erquicken!« Erquicken nicht mit einem freundlichen Wort, um
unsere Angst vor der ungewohnten Einsperrung zu nehmen, oder durch ein Aufnahmegespräch,
das es hier nicht gab. Erquicken nicht mit einer Beschäftigung, sondern »erquicken«
mit den hier üblichen Kaltwasserkopfgüssen; Dauerbädern, in denen
ich unter einer über die Wanne gespannten Segeltuchplane 23 Stunden von einer
Visite zur nächsten lag. Mein Hals war in einem steifen Stehkragen eingeschlossen.
»Erquicken« mit der gefürchteten »nassen Packung«, in
kalte, nasse Tücher so fest eingebunden, dass man sich nicht mehr bewegen
konnte. Die Tücher wurden durch die Körperwärme erst warm, dann
heiß. Ich schrie vor Empörung über diese unsinnige Fesselung in
den heißen Tüchern. Dass Bethel das Vernünfige und Natürliche
wie Gespräche und Beschäftigung durch diese quälenden Beruhigungsmaßnahmen
mit ausschließlichem Strafcharakter ersetzte und das unter dem Jesuswort,
fand ich so unheimlich, dass ich allen Ernstes glaubte, hier dem Teufel, den Jesus
als den »Vater der Lüge« bezeichnet hatte, ausgeliefert zu sein.
Zwangssterilisation oder 25 Jahre Anstalt...
Als ich die Stationsschwester
nach den Narben meiner jungen Mitpatientinnen in der Mitte über der Scheide
befragte, erklärte sie mir diese als »Blinddarmnarben«. Hatte man
uns auch darin zu Hause belogen, dass der Blinddarm seitlich säße?
Bethel als »Stadt der Barmherzigkeit«, als »Gottes Stadt«,
konnte hier nur eine Lüge sein. Ich sang gegen meine tiefen Ängste an
»Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so
fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen...«
Dieses Verschweigen nicht nur der Sterilisationsnarben, sondern auch, dass die
Operation, der ich unterzogen wurde, eine Sterilisation sein, war hier offenbar
üblich, obwohl das Erbgesundheitsgesetz vorschrieb, dass die Sterilisandin
von den Ärzten aufgeklärt werden müsste. Meine Mutter war bei ihrem
Besuch in »Haus Magdala« vor die Wahl gestellt worden, entweder meiner
Sterilisation zuzustimmen oder mich bis zu meinem 45. Lebensjahr in der Anstalt
zu lassen. Mit 19 Jahren war man damals noch nicht mündig. »Das
ist ja noch viel schlimmer!« Erschrocken stimmte sie zu. Das erzählte
sie mir viele Jahre später.
Auch nach der Operation erfuhr ich nicht
von einem Arzt oder einer Schwester, was gemacht worden war, sondern von einer
Mitpatientin, einer Diakonisse, die nach einem Autounfall im Haus lebte.
Verzweifelt ließ ich mir die Haare abschneiden. Ich fühlte mich nicht
mehr als volle Frau. Wenigstens die Haare wollte ich noch wachsen sehen, wenn
meine Entwicklung nun stillstand. Als »minderwertige Geisteskranke«
hatte Bethel mich ohne ein einziges Gespräch zwangssterilisiert. Ich wusste,
dass ich nicht mehr heiraten durfte, weil Ehen zwischen Zwangssterilisierten und
Nicht-Sterilisierten verboten waren. Dass ich meinen lang vorbereiteten Wunschberuf
der Kindergärtnerin nicht mehr erlernen durfte, überhaupt keinen sozialen
Beruf.
Bethel setzt »Erbgesundheitsgesetz« mit Härte
durch
In der Dokumentation zweier Ärzte der Bremer Gesundheitsbehörde
von 1984 »Zwangssterilisiert Verleugnet Vergessen« heißt
es über die Zwangssterilisation in Bethel:
»In den
Anstalten der Inneren Mission, so auch in Bethel, wo Villinger in den ersten Jahren
des Faschismus als ärztlicher Direktor arbeitete, war das Gesetz mit besonderer
Härte durchgesetzt worden. Die Leitung der Inneren Mission hatte sich frühzeitig
für ein Sterilisationsgesetz ausgesprochen. In Bethel wurden 1934 insgesamt
3069 Patienten betreut. Ende 1934 waren bereits 1970 Sterilisationsanzeigen erfolgt.,
davon allein 1775 bei solchen Patienten, die als dauernd anstaltsbedürftig
eingestuft worden waren. Der Anstaltsarzt legte 1934 in 15 Fällen Einspruch
gegen einen ablehnenden Bescheid des Erbgesundheitsgerichtes ein, in 14 Fällen
ordnete dann das Obergericht die Unfruchtbarmachung an. Im selben Jahr verübten
dort zwei Kranke nach dem Sterilisierungsbeschluss Selbstmord...« (Dr. med.
N. Schmacke und Dr. med. H.-G. Güse)
Mit dem frühzeitigen
Ausspruch der Leitung der Inneren Mission für ein Sterilisierungsgesetz werden
die Autoren die Fachkonferenz für Eugenik in Treysa vom 18. bis 20. Mai 1931
schon zwei Jahre vor dem NS-Regime 1933 gemeint haben. An dieser Konferenz
hatten neun theologische Anstaltsleiter, unter ihnen Pastor Fritz von Bodelschwingh
und sieben leitende Ärzte teilgenommen. Außer dem Sterilisationsgesetz
forderten sie die Verabschiedung des Bewahrungsgesetzes zur Asylierung behinderter
Menschen.
Weiter heißt es im Treysaer Protokoll:
»Zur
Vereinfachung und Verbilligung der fürsorgerischen Maßnahmen
für Minderwertige und Asoziale beschlossen sie, die wohlfahrtspflegerischen
Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen
für alle, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit
nicht wieder erlangen.«
Diese beschlossene bloße Verwahrung
ohne eine Beschäftigung und Abwechslung, wie ich sie 1936 in Bethel erlebte,
bezeichnen sie im Protokoll als »differenzierte Fürsorge«, die
geforderte Sterilisierung als einen Akt der »Nächstenliebe«, während
sie die Patienten als Minderwertige und Asoziale«; abwerteten.
Als
2 Jahre später, am 14. Juli 1933 das Erbgesundheitsgesetz erlassen wurde,
hieß es in einer »Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses vom Dezember 1933: »Der Antrag soll nicht gestellt
werden, wenn der Erbkranke... wegen Anstaltsbedürftigkeit in einer geschlossenen
Anstalt dauernd verwahrt wird.«
Zwangssterilisiert wurden dagegen
diejenigen, die aus den Anstalten wieder nach Hause oder ins Arbeitsleben entlassen
wurden, in Anstaltsbetrieben arbeiteten oder Ausgeherlaubnis hatten. In Bethel
waren das die hier genannten 1176 Menschen. Die Leiden der ohne eine Beschäftigung
in geschlossenen Häusern und Stationen nur »menschenwürdig Verwahrten«,
die zwar nicht sterilisiert wurden, aber auf diese Weise verkümmern mussten,
mag man sich erst recht nicht vorstellen.
Dabei hatte nur 20km von Bethel
entfernt Dr. Hermann Simon seit 1923 in Gütersloh die Arbeits- und Beschäftigungstherapie
für alle Patienten auch der geschlossenen Abteilung mit vollem
Erfolg eingeführt. Ich erlebte sie 1946 in Gütersloh drei Monate lang;
und wieviel leichter die Arbeit auch für die Schwestern dort war, die keine
untätig verwahrten und darum unruhigen Patientinnen zu beruhigen hatten,
weil wir alle arbeiteten.
Friedrich von Bodelschwingh: »Hoffnung auf
Entschädigung krankheitsbedingt«
Die beiden Ärzte der Bremer
Gesundheitsbehörde zitieren in ihrer Dokumentation (s.o.) auch die Stellungnahme
des späteren Nachfolgers von Pastor Fritz von Bodelschwingh, seines Neffen
Pastor Friedrich von Bodelschwingh. 1965 hatte der Wiedergutmachungsausschuss
des Deutschen Bundestages ihn als Experten für eine Wiedergutmachung auch
an den Zwangssterilisierten hinzugezogen. Vermutlich nahm man an, dass er die
Interessen der Zwangssterilisierten vertreten werde und wusste wohl nicht, dass
Bethel und die Innere Mission sich schon 1931 für ein Sterilisierungsgesetz
ausgesprochen hatten.
Pastor Friedrich von Bodelschwinghs Stellungnahme
am 21. Januar 1965 wird im Protokoll des Wiedergutmachungsausschusses folgendermaßen
zitiert:
»Gäbe man den Sterilisierten selbst einen Entschädigungsanspruch,
so werde nur Unruhe und neues schweres Leid über diese Menschen gebracht,
die diese Dinge nicht übersehen können und in denen sich nunmehr
krankheitsbedingt die Vorstellung festsetzte, sie müssten auf jeden
Fall entschädigt werden.«
Um unser damaliges Leid hatten
sich Bethels Ärzte und Hauspfarrer mit keinem Wort gekümmert. Offenbar
hatte auch Pastor Friedrich v. Bodelschwingh ebenso wie seine Vorgänger nie
mit einem in Bethel zwangssterilisierten Bewohner gesprochen. Sonst hätte
er unsere Hoffnung auf eine Rehabilitierung durch eine Entschädigung nicht
als »krankheitsbedingt« abwerten können. Dass ein einzelner Mensch,
dazu ein Pastor v.Bodelschwingh die Hoffnungen von 1965 sicher noch lebenden 25O.000
bis 300.000 Zwangsterilisierten zunichte machen konnte, offenbart die Fragwürdigkeit
einer Anstaltshierarchie, in der die Betroffenen nicht gehört wurden.
Vier Jahre zuvor 1961 war Dr. Richard Wilmanns, unter dessen einheitlicher
Verantwortung die Sterilisationen in Bethel durchgeführt worden waren, im
»Richard-Wilmanns-Weg« geehrt worden.
In Bethel hat man sich
bei den rigorosen Zwangssterilisationen ohne ein Gespräch mit uns auch nicht
vergegenwärtigt, dass allen als »erbkrank« Zwangssterilisierten
der Besuch einer weiterführenden Schule oder auch nur höheren Schule
durch Runderlass vom 22. März 1935 verboten war. In unserem »Bund der
Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten« mit anfangs
1000 Mitgliedern, von denen seit der Gründung (1987) 235 Mitglieder gestorben
sind, war ich die Einzige, die 1942 eine weiterführende Schule, die Städel-Kunsthochschule
in Frankfurt am Main besuchen konnte. Und das wohl auch nur, weil ich bei der
ärztlichen Untersuchung die Frage nach vorausgegangenen Operationen verneint
hatte. Zwangssterilisierten Mitbürgerinnen blieb also nicht nur die Ehe mit
nicht sterilisierten Partnern, sondern auch eine qualifizierte berufliche Existenz
versagt, trotz gleicher Verpflichtungen, z.B. Dienstverpflichtungen während
des Krieges. Ohne eine weiterbildende Schule, z.B. Berufsschule, waren sie in
ihrer Existenz schwer benachteiligt. Von den seelischen Folgen, lebenslang als
»minderwertig« abgestempelt worden zu sein, ganz zu schweigen.
Das
Schweigen brechen! Es ist Prof. Klaus Dörner zu danken, seinerzeit
Klinikchef in Gütersloh, dass er ab Januar 1984 in einer Briefaktion den
Bundespräsidenten, Bundeskanzler, die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien,
die evangelische und katholische Kirchenleitung, die Wohlfahrtsverbände und
viele andere auch die Bethelleitung von der Notwendigkeit einer
Rehabilitierung der zwangssterilisierten und der die »Euthanasie«-Anstalten
überlebenden sowie der ermordeten Opfer der NS-Psychiatrie überzeugen
konnte.
Nach einer Anhörung der vergessenen NS-Opfer im Innenausschuss
des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987 erhalten die Zwangssterilisierten ab
1990 eine monatliche Beihilfe von 100 DM, wenn sie ab 1981 eine einmalige Zahlung
von 5000 DM beantragt und erhalten hatten unter der Bedingung, dass sie eine »Vereinbarung
mit der Bundesregierung« unterschrieben hatten, »dass mit dieser Einmalzahlung
von 5000 DM alle Ansprüche aus der Zwangssterilisierung abgegolten sind«.
Seit Mitte des Jahres 1998 wurden die 100 DM auf 120 DM erhöht. Von den 350
bis 400.000 zwangssterilisierten Menschen beantragten nur 13.000 eine Beihilfe.
Viel mehr lebten zu dieser Zeit auch gar nicht mehr, obwohl es heute noch Betroffene
gibt, die von dieser Möglichkeit nichts wissen. In den Medien wurde kaum
informiert. Erst eine bundesweite Unterschriftenaktion von 1994 trug zur Aufhebung
der Sterilisationsbeschlüsse im August 1998 bei. Die »Euthanasie«-Geschädigten
erhielten dagegen nur eine Einmalzahlung, und auch nur dann, wenn sie sich in
einer Notlage befanden. Von den 200 »Euthanasie«-Geschädigten unseres
Bundes erhielten nur sieben Mitglieder diese Einmalzahlung.
Ohne ein Gespräch
konnten Bethels Ärzte und Pfarrer auch nichts über unsere Psychoseinhalte
und ihre Sinnzusammenhänge mit vorausgegangenen Konflikten, mit unserer Lebensgeschichte
wissen. Wenn aber nicht einmal Bethels Pfarrer mit uns sprachen, konnte man dieses
Wissen auch von den Gemeindepfarrern und Bischöfen nicht erwarten. Darum
waren das Schweigen der evangelischen Kirchenleitungen zu den Morden an den Bewohnern
ihrer eigenen kirchlichen Einrichtungen und die jahrelangen nur theologischen
Gutachten zur »Euthanasie« durch die Theologen der »bekennenden
Kirche«, ohne die von Mord bedrohten Menschen ihrer Einrichtungen aufzusuchen
und aus dieser Begegnung ihr Gewissen zu befragen, auch eine Folge ihrer fehlenden
Kenntnis.
Auch die heutigen Psychose- und Depressionserfahrenen in unserem
1992 gegründeten »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener« bedauern
die Unkenntnis vieler Theologen. Dabei braucht es nicht zu bleiben. Da in der
Psychose Inhalte unserer eigenen unbewussten Seele ins Bewusstsein einbrechen,
um vorausgegangene seelische Konflikte oder Belastungen zu lösen, die wir
mit unseren bewussten Kräften nicht lösen konnten, liegt es nahe, dass
aus der Tiefe dieses normalerweise Unbewussten auch religiöse Erfahrungen
sogar bei Menschen aufbrechen, die nie zuvor mit Religion zu tun hatten.
Wie sehr wünschen wir uns Einsichten der Theologen, wie sie der Klinikseelsorger
in der Psychiatrischen Klinik Heiligenhafen/Ostsee Ronald Mundhenk in seiner Dissertation
im Fachbereich Evangelische Theologie »Sein wie Gott Aspekte des Religiösen
im schizophrenen Erleben und Denken« im Paranus-Verlag 1999 herausgab. Seine
Arbeit wurde ermöglicht »durch unzählige Gespräche mit >psychisch
kranken< Menschen, die mir ihr Vertrauen schenkten«. Zitat: »Könnte
es sein, dass Schizophrene manchmal die vom christlichen Glauben eigentlich begabten
Menschen sind?« Und an anderer Stelle: »Welches Wissen über den
Menschen, über seine Abgründe, über seine Sehnsucht und Religiosität
ginge verloren, wenn es die Schizophrenie nicht gäbe?«
Forderungen
an die Kirche Ist es zuviel erwartet, dass Bethels Kirchliche Hochschule
in Zukunft psychoseerfahrene Menschen als Referenten und zum Gespräch über
das religiöse Erleben in der Psychose einlädt und sich dafür einsetzt,
dass auch andere theologische Ausbildungsstätten für Gemeindepfarrer
und Seelsorger diesem Beispiel folgen?
Als Hans Krieger 1990 meinen Schizophrenie-
und Heilungsbericht »Auf der Spur des Morgensterns Psychose als Selbstfindung«
( unter dem Anagram »Schizophrenie« = Sophie Zerchin) im List-Verlag
herausgab, schrieb mir Dr. Niels Pörksen:
»Ich weiß,
wie schlimm es für alle Patienten war, dass wir als Ärzte bis in die
Anfänge der 70er Jahre gelernt haben, mit psychisch Kranken möglichst
nicht persönlich zu sprechen, ihre psychotischen Erlebnisse als nicht nachvollziehbar
einzustufen. Sich nicht ernst genommen fühlen, hängen gelassen werden
mit Ängsten und Erlebnissen, die einen überschütten, abgespeist
werden mit Unverbindlichkeiten und Medikamenten das alles ist über
lange Zeit psychiatrischer Alltag gewesen.«
Auch wenn Bethel
die wichtigsten religiösen Erfahrungen meines Lebens als »geisteskrank«
mit der Zwangssterilisation bekämpfte, trugen sie mich doch seit 1936 bis
in mein 84. Lebensjahr. Aber ich konnte sie mir nur im Widerstand gegen die psychiatrischen
und theologischen Sichtweisen erhalten. Heilung sollte aber mit der Psychiatrie
gewonnen werden können. Das war zu meinen Psychiatriezeiten einer gesprächslosen
Psychiatrie nicht möglich. Seit der ärztlichen Leitung durch Dr. Niels
Pörksen hat sich das in Bethel geändert. Auch die religiösen Erfahrungen
konnten in einer Gesprächsgruppe mit der Psychologin Renate Schernus in ihrem
positiven Sinn besprochen werden. Ob auch Bethels Pfarrer solche Gesprächsgruppen
anbieten, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich wünsche mir in allen
kirchlichen Psychiatrien der Diakonie und der Caritas ein christliches Menschenbild
anstelle des psychiatrischen Maßstabes der NORM und ein Psychoseverständnis,
das diesem christlichen Menschenbild entspricht, als Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeit.
Diese Sicht der Psychose kennzeichnet das Soteria-Modell. Sein Begründer,
der amerikanische Psychiater Dr. Loren Mosher geht von den Erfahrungen und Bedürfnissen
der Patienten aus, statt von den Bedürfnissen der Institutionen und ihrer
Ärzte und Träger. Bisher wurde dieses Modell wohl nur von kommunalen
Psychiatrien verwirklicht.
Am Ende seines Lebens setzte Jesus die Solidarität
mit den geringst Geachteten zum einzigen Maßstab für die Annahme des
Menschen: »Was Ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt,
das habt Ihr mir getan.« Seine Identifikation gerade mit ihnen beinhaltet
auch, dass Gottes Geist nicht nur in alten Zeiten in den biblischen Gestalten
wirkte. Auch sie waren auffällig geworden. Sie hörten Stimmen, erlebten
Visionen, fühlten sich vom Geist getrieben. Wer als heutiger Mensch solche
überwältigenden Erfahrungen macht, die der heutigen NORM erst recht
nicht entsprechen, braucht das Verständnis der Theologen. Wenn Bethels Kirchliche
Hochschule sie dazu befähigen könnte, wären die Leiden der in Bethel
Zwangssterilisierten nicht ohne eine positive Wirkung, nicht ohne einen Sinn geblieben.
Dorothea Buck ist Bildhauerin
und Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener
e.V. und lebt in Hamburg. Ihre Autobiographie »
Auf
der Spur des Morgensterns Psychose als Selbstfindung«
ist bei Econ & List erschienen unter dem Pseudonym »Sophie
Zerchin« (Stand: 2007)