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des Antipsychiatrieverlags
in: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BRD),
2006, Nr. 4
AG 1: Die im Dunkeln sehen einander nicht? Die eigene
Erfahrung Schatz oder Brett vor dem Kopf?
Moderator: Peter Lehmann (Berlin www.peter-lehmann.de)
Wie kann die eigene Erfahrung angereichert, vermittelt,
geöffnet werden, damit aus Erfahrenen Experten werden? Mit welcher
Praxis können wir unsere Erfahrungen anreichern? Was sind Erfahrungen
eigentlich? Wie lassen sich Erfahrungen Anderer nutzen? Experten
nicht nur in eigener Sache: Für welche Bereiche wollen wir Experten
sein? Unter welchen Bedingungen können und wollen wir dieses Expertentum
Anderen vermitteln? Wie schützen wir uns vor Interpretation, Missbrauch
als Quotenbetroffene, Reduzierung auf die Patientenrolle, Zurschaustellung
und Ausbeutung?
Qualifizierung von Betroffenen zu Experten ist nicht
neu, allerdings wurde dieses Thema im BPE bisher eher vernachlässigt.
In Großbritannien gibt es bereits seit 20 Jahren Erfahrungen mit
der Qualifizierung von Betroffenen zu ExpertInnen, die dann auch
gut bezahlte Arbeit im psychosozialen Bereich finden. Peer (=
»Gleiche«) Training, d.h. Training von Betroffenen zwecks
Tauml;tigkeit für den Einsatz, als ehemals Betroffene akut Betroffene
zu unterstützen, gibt es auch seit Jahren in den USA, wie auch
Fortbildung von Betroffenen zu Fortbildnern (»Consumers as
trainers« »Betroffene als Trainer«). Ein
Ergebnis des »Harassmentprojekts« (»Diskriminierung
von Psychiatriebetroffenen im Gesundheitswesen. Eine europauml;ische
Studie«), an der der BPE beteiligt war, bestand in der Forderung
nach (ausgebildeten) Betroffenen, die ihr Erfahrungswissen in
die Ausbildung von Profis einbringen, siehe www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/empfehlungen.pdf
Parallel zur Erarbeitung dieser Empfehlungen wurden
in Oberösterreich zuerst von Oase Power to the People«,
später von Netzwerk Spinnen unterschiedliche Konzepte zur Peer-Ausbildung
entwickelt. In Deutschland bietet die Initiative zur sozialen
Rehabilitation e.V. (Bremen), im Rahmen ihrer F.O.K.U.S.-Fortbildung
»ExpertIn durch Erfahrung in der Gesundheitsversorgung«
Basismodule an. Manche Fortbildungen sind von den Betroffenen
zu bezahlen, manchmal gibt es Geld für die Teilnahme an der Fortbildung.
Manchmal bestimmen die Betroffenen selbst, wer sie zu welchen
Themen fortbildet, manchmal bestimmen die Profis Themen und Fortbilder.
Teilweise gilt die spauml;tere Tauml;tigkeit als Beitrag Richtung Systemwechsel,
teilweise als Ergauml;nzung psychiatrischer »Angebote«,
dann werden nicht nur psychiatrische Strukturen und Gesetze gelehrt,
sondern es gibt auch eine »Krankheits- und Typenlehre«.
In der (sehr großen) Arbeitsgruppe nauml;herten wir
uns den weit reichenden Fragen durch ein lauml;ngeres Brainstorming
an. Was genau ist es, was uns interessiert, wo wir bisher kaum
Erfahrungen mit Fortbildungen als Betroffene haben?
Vier Fragenkomplexe standen im Raum:
-
Erleben, Erfahren, Reflektieren, Verarbeiten. Und dann die
eigenen Erfahrungen verallgemeinern: Was lauml;sst sich angesichts
der Kenntnis unserer Einzigartigkeit verallgemeinern? Beispiel
Verstauml;ndnis der eigenen Erfahrung als Krankheit: Werden
andere nicht verletzt, wenn man diesen Begriff verallgemeinert,
wo ihn andere als abwertend für ihre eigenen Erfahrungen verstehen?
Voraussetzung insgesamt ist die Auseinandersetzung mit der
eigenen, außergewöhnlichen Erfahrung.
-
Wie die eigenen Erfahrungen anreichern: Schulung, Training,
Lesen, Auseinandersetzung in der Praxis, Evaluation (Überprüfung
und Auswertung)
-
Wo anwenden? Krisenbegleitung, Weglaufhaus Mitarbeit, Besuchskommissionen,
Selbsthilfeberatung, Nutzerbeteiligung, Interessensvertretung
- Folgerungen: Wesentlich ist, dass unabhauml;ngige
Betroffene die Zertifizierung in den eigenen Hauml;nden behalten
bzw. sie in die eigene Hand nehmen, ebenfalls an Lehrplanerstellung
und Auswahl von DozentInnen zumindest beteiligt sind. Da es
schon einiges an Praxis gibt, diese aber zu wenig bekannt oder
gauml;nzlich unbekannt ist, wurde als AG-Ergebnis beschlossen, dass
sich ein unabhauml;ngiger Arbeitskreis bildet, der einen Überblick
über bestehende Angebote der Fortbildung von Betroffenen zu
Experten erarbeiten, diesen auf die Website des BPE (siehe www.bpe-online.de)
stellen und sich weiter dem Thema widmen will. Zudem wurde vorgeschlagen,
an den langjauml;hrigen Erfahrungen aus England profitieren zu wollen
und dem BPE vorzuschlagen, als nauml;chsten Hauptreferenten einen
erfahrenen, psychiatriebetroffenen Trainer bzw. eine Trainerin
einzuladen (Vorschlag P.L.: Andrew Hughes oder Jan Wallcraft,
beide England).