Vortrag beim REHA-Kongress am 5. Mai 2000 in Hamburg

 

Dorothea-Sophie Buck-Zerchin

Das Leiden am medizinischen Krankheitsmodell der (Gemeinde)-Psychiatrie

Eine Theorie erschafft eine krankmachende Wirklichkeit

In der gesamten Medizin wird es keine Theorie geben, die sich so verhängnisvoll für uns ehemalige und heutige Psychiatrie-Betroffene auswirkte und auswirkt, wie das »medizinische Krankheitsmodell« der nicht seelisch, sondern erblich und körperlich – heute durch eine genetisch bedingte Hirnstoffwechselstörung – verursachten und daher sinnlosen und »unheilbaren« endogenen Psychosen, besonders der Schizophrenie.

  • weil es Gespräche über die Inhalte der Psychosen und ihre Sinnzusammenhänge mit den vorausgegangenen Lebenskrisen der Betroffenen verhindert,

  • weil es den Psychopharmaka höchsten therapeutischen Stellenwert einräumt, obwohl sie nur Symptome verdrängen, aber nicht heilen können,

  • weil es die Betroffenen des Sinnes ihrer besonderen seelischen Erfahrungen und damit ihrer Entwicklungsmöglichkeit beraubt,

  • weil es die Selbsthilfekräfte blockiert und die Betroffenen ent- statt er mutigt.

Das »medizinische Krankheitsmodell« verleitet biologistisch orientierte Psychiater dazu, ihren PatientInnen zu erklären, dass sie an einer »unheilbaren Schizophrenie« leiden würden und darum ihr Leben lang Medikamente nehmen müssten. Diese entmutigende Aussicht: als »unheilbar Schizophrene« stigmatisiert lebenslang Gefühle und Initiative reduzierende Medikamente nehmen zu müssen, hat schon viel zu viele in den Selbstmord getrieben, die mit diesem Stigma und dieser Reduzierung nicht länger leben wollten.

Was man versteht..... braucht man nicht zu verdrängen.

Diese heute wieder verstärkte biologistische Sicht erfordert einen Blick zurück auf die Psychiatrie von 1933 – 1945. Denn ebenso wie die heutige biologistische Psychiatrie mit ihrem »medizinischen Krankheitsmodell« darauf hofft, durch immer bessere Psychopharmaka und durch das in absehbarer Zeit gefundene Schizophrenie-Genom diese «in den Griff«; zu bekommen, glaubten auch die damaligen Psychiater, die »Geisteskrankheiten«, wie sie damals hießen, durch unsere Zwangssterilisationen und die Patientenmorde der sogenannten »Euthanasie« aus der Welt schaffen zu können.

Wenn aber heutige Psychiater die Hirnstoffwechselstörung als primäre Ursache der Psychosen bestimmen und ehrgeizige Wissenschaftler die für sie zuständigen Gene gefunden zu haben glauben, wissen wir nicht, ob außer einer pränatalen Diagnostik mit erwarteter Abtreibung auch wieder Sterilisationen gefordert werden.

Auch damals gab es in anderen Ländern Alternativen zur völlig gesprächslosen deutschen Psychiatrie mit ihrem »medizinischen Krankheitsmodell« und ihrer Abwertung von uns Patienten als »minderwertigen oder lebensunwerten Erbkranken«. Zur selben Zeit der Zwangssterilisationen und der Patientenmorde durch unsere deutschen Psychiater führten Psychiater und Psychotherapeuten anderer Länder auch mit den sogenannten »chronischen Schizophrenen« psychotherapeutische Gespräche noch vor der Psychopharmaka-Ära.

Entwicklungsrückstand der deutschen Psychiatrie

ALEXANDER MITSCHERLICH schrieb darüber in seinen 1966 in edition suhrkamp erschienenen Studien »Krankheit als Konflikt«:

»Im Jahre 1951 gab der Direktor des Burghölzli (die Zürcher Universitätsklinik) MANFRED BLEULER (Sohn von EUGEN BLEULER) seinen inzwischen berühmt gewordenen Übersichtsbericht über die »Forschungen und Begriffswandlungen in der Schizophrenielehre 1941 bis 1950«. Englisch-amerikanische, französische, italienische und deutschsprachige Veröffentlichungen fanden Berücksichtigung. Nicht weniger als 1.100 Arbeiten wurden referiert. Was ist nun das Ergebnis dieser sorgfältig erarbeiteten Übersicht? Es seien, in zwölf Punkte gegliedert, die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Tatbestände wortgetreu zitiert...«

MITSCHERLICH fährt fort:

»Der Überblick Bleulers hat gezeigt, dass die therapeutische Erschließung schwerer und chronischer Psychosen durch individuelle, intensive Psychotherapie als erfolgreich erwiesen ist, dass es uns aber noch an genauerer Kenntnis der spezifischen seelischen Verletzungen, des Verhältnisses von Konstitution und Milieu fehlt. Uns diese Kenntnis zu verschaffen, ist ohne Zweifel die Aufgabe der Grundlagenforschung, also der Universitäten. Ist hierzu in unserem Lande etwas geschehen, etwas, was sich im Umfange der Versuche, an forscherischer Geduld, an Freiheit, die man für solche Untersuchungen braucht, mit den Anstrengungen, die man in der Schweiz, Frankreich, Amerika macht, vergleichen ließe? Mit verschwindenden und (ruhmreichen) Ausnahmen: nein. Es würde zu weit führen, die Haltung der deutschen Psychiatrie aus ihrer großen Vergangenheit, vielleicht mehr noch aus dem eigentümlichen Verhältnis, das in unserem Lande zwischen Autorität, die vom Amt abgeleitet wird, und Selbstunsicherheit, Intoleranz und Missbrauch der Autorität besteht, zu erklären. Fest steht die Tatsache, dass wir den Anschluss an einen großen Forschungsversuch bisher nicht gefunden haben, dass kaum Grundlagenforschung betrieben werden darf (weil sie auf das Veto der Autorität trifft), dass deshalb breite Erfahrungsgrundlagen fehlen und es gerade deswegen niemand wagt, den Behörden gegenüber eine grundlegende Reform des Anstaltswesens zu fordern.» (1966)

Dass jene Psychiatrieprofessoren eine Grundlagenforschung ablehnten, die ihren Irrtum der »unheilbaren Schizophrenie« und seine Folgen in den psychiatrischen Ausrottungsmaßnahmen der Zwangssterilisationen und den Patientenmorden von 1933 – 1945 hätte erkennen lassen, ist verständlich. Dieser Entwicklungsrückstand unserer deutschen Psychiatrie gegenüber den Psychiatrien der genannten Länder ist wohl bis heute nicht aufgeholt worden. Die deutsche, völlig gesprächslose nosologische Psychiatrie von EMIL KRAEPELIN hat sich als gesprächsarme Psychiatrie bis heute fortgesetzt. Nach einer Umfrage unseres »Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener« von 1995 haben nur 10 % der Befragten erlebt, dass auf die ursächlichen Probleme, die zur Anstaltsaufnahme geführt hatten, eingegangen worden war. (In den »Sozialpsychiatrischen Informationen«, Heft 4/95).

Der Leiter einer großen psychiatrischen Anstalt schrieb mir nach dem Erscheinen meines Schizophrenie- und Heilungsberichtes »Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung« unter dem Anagramm von »Schizophrenie« = Sophie Zerchin 1990:

»Ich weiß, wie schlimm es für alle Patienten war, dass wir als Ärzte bis in die Anfänge der 70er Jahre gelernt haben, mit psychisch Kranken möglichst nicht persönlich zu sprechen, ihre psychotischen Erlebnisse als nicht nachvollziehbar einzustufen. Sich nicht ernst genommen fühlen, hängen gelassen werden mit Ängsten und Erlebnissen, die einen überschütten, abgespeist werden mit Unverbindlichkeiten und Medikamenten – das alles ist über lange Zeit psychiatrischer Alltag gewesen.«

Lehren aus der Vergangenheit

Wie die Umfrage in unserem Bundesverband ergab, war das 1995 in vielen deutschen Psychiatrien immer noch »psychiatrischer Alltag«. Um diese gesprächslose oder immer noch gesprächsarme Psychiatrie in eine auf den Erfahrungen der Betroffenen gründende empirische Psychiatrie zu verändern, begannen wir vor 10 1/2 Jahren mit unserem ersten gleichberechtigten Erfahrungsaustausch zwischen psychose- und depressionserfahrenen Menschen, Angehörigen und Fachleuten in unseren inzwischen weit über 100 Psychose-Seminaren in der Bundesrepublik und im benachbarten Ausland, mit dem TRIAL0G. Hier konnten die Betroffenen zum ersten Mal über ihr Psychoseerleben sprechen, ohne eine Medikamentenerhöhung wie in den Psychiatrien befürchten zu müssen.

Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, von den Erfahrungen der Betroffenen auszugehen, sie zu erfragen und ernst zu nehmen. In der psychosomatischen Medizin ist das selbstverständlich. Hier dürfen gerade Körper-krankheiten wie Magengeschwüre seelisch verursacht sein. Seelische Störungen dürfen das nach dem »medizinischen Krankheitsmodell« nicht.

Warum sie das nicht dürfen, lesen wir in BETTINA KROLLs Studie »Mit Soteria auf Reformkurs – Ein Alternativprojekt bewegt die Akut-Psychiatrie« von 1998 im Jakob van Hoddis-Verlag. Sie zitiert hier die namhaften amerikanischen Psychiater LOREN MOSHER und ALMA MENN, die Begründer der ersten SOTERIA in Florida über die

»Vier Hindernisse auf dem Weg zur heilungsfördernden klinischen Situation. Das erste Hindernis ist: Das medizinische Krankheitsmodell. Da sich die Psychiatrie um die volle Anerkennung als Teildisziplin der Medizin bemühe, dominiere hier das medizinische Krankheitsmodell. Dies statte den Arzt im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen mit unverhältnismäßig viel Autorität und Verantwortung aus und räume zugleich den Psychopharmaka höchsten therapeutischen Stellenwert ein. Die Patienten würden dabei nicht als Menschen, sondern in erster Linie als Leidende mit Behinderungen und Fehlfunktionen wahrgenommen, deren Erkrankung es in Form einer Diagnose zu etikettieren gilt. Die Folge davon sei eine Verobjektivierung und Stigmatisierung dieser Menschen die in Zukunft als psychisch krank gelten.«

Während der Magenspezialist eine durch seelischen Stress angegriffene Magenwand selbstverständlich akzeptiert, fühlt sich der biologistische Psychiater in seiner Kompetenz bedroht, wenn er eine seelisch verursachte Hirnstoffwechselstörung akzeptieren würde. Darum beklagen sich Mitglieder unseres Bundesverbandes und der Landesverbände und unserer Selbsthilfegruppen immer wieder darüber, dass sie nach den ihren Psychosen vorausgegangenen Lebenskrisen von den Psychiatern gar nicht gefragt worden seien.

LOREN MOSHER setzte als Alternative zu dieser die Patienten abwertenden pathologisierenden und ihre Defizite statt ihre Stärken betonenden biologistischen psychiatrischen Sichtweise sein SOTERIA-Modell, das die Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten durch die Schizophrenie erkennt. Dazu müssen die Betroffenen aber angehört und ernst genommen werden, damit die Psychiater ihre Psychosen als Heilungsversuch vorausgegangener Lebenskrisen erkennen können, wie ja auch Körperkrankheiten Heilungsversuche, Selbstregulationen sind.

In der Bundesrepublik wurde SOTERIA in Zwiefalten verwirklicht. Das von unserem »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener« als in jeder Akutstation mögliche empfohlene Modell des »Hermann-Simon-Haus II« in Gütersloh, das von den Oberärzten Dr. Theiß Urban und Frau Dr. Iris Jiko mit ihrem engagierten Team vor Jahren aufgebaut wurde, ist zu unserem großen Bedauern offenbar durch einen von Münster erzwungenen Leitungswechsel im Umbruch.

Dass diese Akutstation mit normaler sektorisierter Regelversorgung die wichtigsten SOTERIA-Elemente integrierte: nämlich von den Bedürfnissen der Patienten auszugehen, statt von den Bedürfnissen der Ärzte, der Institutionen oder der Träger, war uns ein so ermutigendes Vorbild für alle Akutstationen ohne Mehrkosten.

Hier in Hamburg setzen wir unsere Hoffnung auf die psychiatrische und psychotherapeutische Abteilung von Professor MICHAEL STARK in Rissen. Er und sein Team bezogen uns Psychose- und Psychiatrieerfahrene von vornherein in die Konzepterarbeitung ein. Auf zwei der drei Stationen mit 56 Patientlnnen bildeten sich bereits Selbsthilfegruppen. Dass die Selbsthilfe der Betroffenen schon in der Klinik so gefördert wird, lässt das Miteinander der Profis mit den Betroffenen erkennen. Diese Abteilung im Krankenhaus der DRK-Schwesternschaft wurde im August letzten Jahres eröffnet.

Heilung nicht vorgesehen?

Selbst die biologistische Psychiatrie akzeptiert, dass auch die besten Psychopharmaka nur Symptome verdrängen, aber nicht heilen können. Das »medizinische Krankheitsmodell« hat darum auch keine andere, als eine die Symptome nur verdrängende Zukunft. Trotzdem gehen 98% der öffentlichen Forschungsgelder für die Psychiatrie in die medizinisch-physiologische Forschung. Unser »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener« hat darum ein eigenes Forschungsprojekt »Psychose und Depressions-Erfahrene erforschen sich selbst« initiiert mit psychoseerfahrenen Diplompsychologen, die die Fragen formulierten und die Antworten auswerten. Uns fehlt zwar jeder finanzielle Zuschuss, aber dafür beteiligen sich lauter Experten ihrer eigenen Psychosen und Depressionen. Obwohl alle am Projekt Beteiligten – und nicht nur sie – die seelischen Ursachen ihrer Psychosen z.B. als gestaute Gefühle und Impulse erlebten, die in den Psychosen aufbrechen können, bezweifelt wohl niemand von uns, dass sie auch eine Veränderung im Gehirn bewirken. Wie z.B. der Zorn das Gehirn dazu alarmiert, uns die Zornesröte in Gesicht zu treiben und heftig zu gestikulieren. Aber das sind die Folgen, nicht die Ursache des Zorns. Längst hat auch die Physik das materialistische Menschenbild im »medizinischen Krankheitsmodell« widerlegt.

Mit Betroffenen reden – statt über sie

Hat man aber wie ich vor über 40 Jahren die zur Heilung notwendigen Einsichten nach 5 schizophrenen Schüben von 1936 – 1959 gefunden und seine Psychose ins normale Leben integriert, statt verdrängt, darf es keine Schizophrenie gewesen sein, weil das »medizinische Krankheitsmodell« keine Heilung zulässt. So erklärte mir Herr Professor Bach aus Dresden beim XIV. Weltkongress für Soziale Psychiatrie hier im Saal 2 im Jahre 1994, dass ich keine Schizophrenie gehabt haben könne, denn sonst könnte ich nicht hier vorne stehen und ein Referat über die Schizophrenie halten, wie ich es damals tat. Statt die aus eigener Kraft Geheilten zu fragen, was ihnen geholfen hat und unsere Psychose- Seminare zu besuchen, wird lieber die nur medikamentös verdrängte, aber nicht heilbare Schizophrenie vertreten, zur schweren Belastung der Betroffenen und ihrer Angehörigen.

Auch wer heute von einer Schizophrenie geheilt sein will, muss die zur Heilung notwendigen Einsichten in der Regel immer noch selber finden.

Vom Sinn im Wahn

Was mir zum Verständnis meiner Schizophrenie und zu ihrer Einbeziehung in mein normales Leben anstatt ihrer Verdrängung vor über 40 Jahren half, möchte ich in den mir bleibenden 9 Minuten berichten, obwohl es für diejenigen, die mich und meine Texte kennen, nichts Neues ist. Den ersten Anstoß zum Psychoseverständnis verdanke ich einer Mitpatientin meines vierten Schubes 1946, mit der ich das Zimmer teilte. Aus ihrem Nachttraum wachte sie mit einer schweren Psychose mit beängstigenden Schlangenhalluzinationen auf. Das Merkwürdigste war für mich, dass sie dabei eine fremde, französisch klingende Sprache sprach, in der sie die zweite, statt der ersten Silbe im Deutschen betonte. Sie hatte nie französisch gelernt, ich wusste aber von ihr, dass sie aus einer Hugenottenfamilie stammte. Ich konnte mir ihre französisch klingende Sprache nur als Aufbruch eines von ihren Vorfahren ererbten Sprachrhythmus erklären. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass auch die Vorstellungen und treibenden Impulse meiner eigenen Psychose nicht von außen »eingegeben«, sondern aus mir selbst, aus einem sonst Unbewussten kommen könnten. Aber was ist dieses Unbewusste, was enthält es?

Nach meinem nächsten, fünften und letzten Schub 13 Jahre später – 1959 – fiel mir auf, dass seit dem Aufbruch meiner Psychose Monate zuvor meine Nachtträume ausgesetzt hatten, die ich morgens vielleicht nur vergessen hatte. Ich konnte mir das nur so erklären, dass meine psychotischen Vorstellungen an die Stelle meiner Nachtträume getreten waren. Nachdem die Psychose meiner Mitpatientin 13 Jahre zuvor aus ihrem Nachttraum mit der französisch klingenden Sprache aufgebrochen war, schloss ich bei mir auf dieselbe Quelle von Traum und Psychose im eigenen Unbewussten. Ich folgerte weiter: Ebenso wenig wie der Traum »geisteskrank« ist, kann es die psychotische Vorstellung sein. Unsere »Krankheit« kann nur darin liegen, dass wir unsere Psychoseerfahrungen für wirklich halten, was wir im Traum nur tun, so lange wir ihn träumen. Verstand ich die Vorstellungen meiner abgeklungenen Psychose auf der »Traumebene«, konnte ich mir ihren SINN erhalten, nur ihre Wirklichkeit nicht. Dieses Verstehen der Psychose als Aufbruch ,des eigenen Unbewussten, um eine vorausgegangene Lebenskrise zu lösen, die wir mit unseren bewussten Kräften nicht lösen konnten, befreite mich von der uns wohl alle schwer belastenden psychiatrischen Bestimmung der Schizophrenie als einer nicht seelisch, sondern heute durch eine genetisch bedingte Hirnstoffwechselstörung verursachten »endogenen Psychose«. In meinen fünf Psychosen in fünf verschiedenen Psychiatrien – unter ihnen die Frankfurter Universitätspsychiatrie –, hatte ich nicht ein einziges psychiatrisches Gespräch über die Vorgeschichte meiner Psychosen und ihre Sinnzusammenhänge mit meinen Psychoseinhalten erlebt. Ohne ein Gespräch konnten unsere damaligen Psychiater und können ihre heutigen Kollegen auch nichts über die seelischen Ursachen unserer Psychosen wissen.

Die enge Verwandtschaft zwischen Traum und Psychose erkennen wir auch an der gleichen Technik, die Traum und Psychose anwenden. Denn ebenso wie wir des Nachts – oder wie sich des Nachts (denn es ist ein uns unbewusster Vorgang) – , die Emotionen und Probleme des Tages in konkrete Vorstellungen, in real erlebte Situationen bildhaft verwandeln, die sie uns zugänglicher machen, in denen wir unsere Phantasien ausleben, verwandeln sich auch in unseren Psychosen vorausgegangene Lebenskrisen in fassbare, konkrete Vorstellungen. Das können beängstigende, aber auch befreiende Vorstellungen sein. Das Entscheidende ist aber wohl, dass das zuvor Ungestaltete, Ausweglose einer Lebenskrise, die wir nicht lösen konnten, in unseren Psychosen fassbare Gestalt gewinnt, zumeist symbolische Gestalt wie in unseren Nachtträumen.

Da werden unbestimmte Ängste zu konkreten Verfolgern. Gleichzeitig hat der Verfolgte einen Wert für den Verfolger, sonst würde der sich die Mühe des Verfolgens nicht machen. Da werden wie bei meiner Mitpatientin leibhaftige Schlangen halluziniert. Gleichzeitig ist die sich häutende Schlange ein Symbol für die seelische Erneuerung, ein Entwicklungssymbol, das in den Psychosen häufig aufbricht. Eine junge Frau sieht in sich und dann auch wieder im Partner den Teufel. Wenn sogar der Teufel sich in ihre Beziehung einmischt, ist sie und ist er schuldlos am Bruch der Verbindung.

Der vorausgegangene unlösbare Konflikt, die Belastung oder der emotionale Stress, wie es heute heißt, erfordern eine Befreiung aus der eigenen bewussten Verantwortung. Wir sind es nicht mehr selbst, die denken und handeln, sondern wir erleben unsere Gedanken und Impulse als von außen »eingegeben«. Wir lassen uns denken und handeln. Wir können diesen Entschluss: Nicht mehr aus eigenem Willen zu leben, auch bewusst fassen. Als ich zu Beginn meiner ersten Psychose 1936 zum ersten Mal den Aufbruch mir bis dahin unbekannter treibender Impulse erlebte, beschloss ich: Mein Wille ist, nicht mehr zu wollen, sondern mich von Dir führen zu lassen. Denn ich hatte keine andere Erklärung für sie als das Pauluswort: »Die der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.« Dann entfallen die Ängste, die das nicht mehr selbstbestimmte Denken und Handeln machen können. Wenn man aber weiß, dass die uns in der Psychose überwältigenden Erfahrungen nicht von außen, von Gott oder anderen Mächten oder Menschen »eingegeben« sind, sondern aus unserem eigenen normalerweise Unbewussten aufbrachen, können wir sie auch kritischer hinterfragen, als wir es bei »Eingebungen« wagen würden. Das Wort »Eingebung« zeigt, dass auch der Normale dieses Gefühl kennt: Das kommt nicht aus mir selbst, das ist »eingegeben«, weil es sich vom normalen Denken völlig unterscheidet.

Die enge Verwandtschaft zwischen Traum und Psychose erkennen wir auch an dem in der Psychose häufig veränderten normalen Denken und Handeln in ein symbolisches Denken und Handeln. Dass dieses Symboldenken und Symbolhandeln für uns so glaubwürdig sein kann, wie das im normalen Zustand nicht wäre, liegt auch an dem in der Psychose veränderten Weltgefühl sonst nicht gespürter Sinnzusammenhänge. Aus diesem Gefühl, das alles miteinander in Beziehung steht, dass es nichts Zufälliges gibt, resultieren auch die der Psychiatrie bekannten »Beziehungs- und Bedeutungsideen« und das »Nicht mehr Unterscheiden von Wesentlichem und Unwesentlichem«. Wenn alles eine symbolische Bedeutung hat, Gleichnis für etwas ist, unterscheidet man Wesentliches und Unwesentliches nicht mehr voneinander, weil es nichts Unwesentliches mehr gibt. Dieses veränderte Weltgefühl der Sinnzusammenhänge verführt sehr leicht dazu, nicht sich auf das Ganze, sondern das Ganze auf sich zu beziehen. Viele Pychoseerfahrene kennen dieses mehr oder weniger stark veränderte Weltgefühl sonst nicht gespürter Sinnzusammenhänge, das dem magischen Weltgefühl unserer frühen Vorfahren ähnlich sein könnte. Auch in unseren Nachtträumen assoziieren wir Elemente, die wir im Wachdenken auseinanderhalten würden.
Eine weitere Parallele zwischen Traum und Psychose sind die in der Schizophrenie häufigen Identifikationen mit anderen Personen oder Symbolen, z.B. mit Christus, Braut Christi, Maria und anderen, von denen wir überwältigt wurden, oder heutige Betroffene überwältigt werden. In meiner ersten geschlossenen Station 1936 waren wir gleich drei Bräute Christi. Als mich diese Vorstellung zu Hause überwältigt hatte, war ich nach dem ersten Schrecken wie befreit. Denn ich hatte mich zuvor Wochen lang vergeblich um eine Beziehung zu Jesus bemüht. Nun stellte ich mir vor, wie Jesus sich mit mir als seiner Braut langweilen würde, wenn ich durch die Überwindung meiner Natur ihm nachzueifern versuchte. Mir wurde daran klar, dass ich nur ich selbst zu werden brauchte. Diese häufigen Identifikationen auch mit Jesus können uns lehren, dass jeder von uns sich ebenso wie Jesus als Gottes Kind erkennen und seine eigene Natur entwickeln soll.

Auch aus unseren Nachtträumen kennen wir Identifikationen. Denn die in unseren Träumen auftretenden und handelnden Personen meinen uns häufig selbst. Sie sind ein Teil von uns, obwohl sie unter einer anderen Identität auftreten.

Lasst Euch nicht entmutigen

Abschließend möchte ich an die Betroffenen appellieren: sich nicht durch das »medizinische Krankheitsmodell« der nur medikamentös zu verdrängenden, aber nicht heilbaren »endogenen Psychosen« entmutigen und stigmatisieren zu lassen. Es gibt genügend Psychiater und Psychotherapeuten, die das anders sehen. Und es gibt unsere Selbsthilfegruppen, unsere Landesverbände und unseren »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener«. Hier sprechen wir Experten in eigener Sache über das, was den Einzelnen geholfen hat und was man selber tun kann.